Mit welchem Spielzeug spielten die Kinder der russischen Bauern?

Karl Lemokh; Eugene Zelenko (CC BY-SA 4.0)
Der Ausdruck катиться кубарем (katítsa kubarjóm) bedeutet so viel wie herumkreisen, sich überkugeln und ist in Russland weithin bekannt. Aber was ist eigentlich ein кубарь? Dieses Spielzeug war jahrhundertelang bei russischen Kindern beliebt. Es gab auch noch andere Spielsachen, an die man sich erinnern sollte.

Das Wichtigste, was alle russischen Spielzeuge des gemeinen Volks auszeichnet, ist ihre einfache und preiswerte Herstellung. Sie wurden von den Eltern für ihre Kinder in ihrer knappen Freizeit aus improvisierten Materialien hergestellt. Die Handwerkstechniken wurden von den Eltern an die Kinder weitergegeben und im Laufe der Jahrhunderte verfeinert. Fast jeder Vater konnte für seinen Sohn ein Pferd aus Holz schnitzen und für seine Tochter eine mit Stoffresten angekleidete Puppe basteln.

Warjka von Karl Lemoch. Das Mädchen hält eine Holzpuppe.

In einer Bauernfamilie gab es nicht viele Spielsachen, also wurden sie schonend behandelt. Viel Zeit zum Spielen blieb den Bauernkinder nicht – bereits ab dem Alter von fünf, sechs Jahren mussten sie im Haus mithelfen, vor allem sich um jüngere Geschwister kümmern. Dabei lernten sie auch, einfache Spielsachen für die Kleineren herzustellen.

Puppen: Sakrútki, Strigúschki, Njascháschki

Die Köpfe russischer Puppen waren nie bemalten und hatten noch nicht einmal Augen. Wie die Forscherin Galina Dajn schreibt, „ist die Gesichtslosigkeit der volkstümlichen Stoffpuppe eine deutliche Spur des animistischen Glaubens der Slawen. Eine gesichtslose Puppe wurde als lebloses Objekt betrachtet, dem böse Kräfte nichts anhaben konnten.“ Gesichter tauchten bei Puppen erst Ende des 19. Jahrhunderts, unter dem Einfluss westlichen urbanen Spielzeugs, auf. Dafür verfügten die Russen über sehr viel Einfallsreichtum bei der Herstellung von Puppen aller Art.

Zwirnpuppen

Nach altem Brauch begann eine Frau, sobald sie wusste, dass sie ein Kind erwartete, eine закрутка (Sakrútka), eine Dreh- bzw. Zwirnpuppe, aus Stoff anzufertigen. Dies geschah ohne Nadel, nur mit den Händen, da Metall als „gefährliches“ Element angesehen wurde. Sie konnte lediglich aus Stoff bestehen oder aber mit Graupen, Heu oder Wolle gefüllt sein. Noch vor der Entbindung wurde diese Sakrútka in die vorbereitete Wiege gelegt . Sie war das erste Spielzeug des Neugeborenen und dient ihm gleichzeitig als Amulett.

Eine solche Puppe konnte man wickeln, anziehen und in den Arm nehmen. Natürlich franste die Sakrútka mit der Zeit aus und wurde schmutzig, aber es war einfach, sie  auseinander zu binden, zu waschen und wieder zusammen zu setzen, was die Kinder nach und nach selbst lernten. Eine Abwandlung der Zwirnpuppe war die няжашка(Njascháschka, von нежить, dt.: kuscheln), die aus sauberen Tüchern gefertigt wurde, damit das Kind sie unbeschadet für die Gesundheit küssen konnte.

Die Strigúschki-Puppen

Die Strigúschki-Puppen (von стричь, dt.: schneiden) wurden aus Stroh hergestellt, oft buchstäblich auf dem Feld, um die kleinen Kinder zu beruhigen und zu unterhalten. Oft war die ganze Familie auf dem Feld und es war niemand da, der auf den Säugling aufpassen konnte, sodass die Eltern ihn die ganze Zeit mit sich herumgetragen mussten.

„Tanzende“ Strigúschki-Puppen

Zu Hause konnte man dieses Strohbündel, das unten abgeschnitten und dem ein kleines Kleid angezogen wurde, auf dem Tisch oder dem Boden stellen und durch die Vibration – Stampfen oder Klopfen – „tanzen“ lassen. Waren die Strohhalme geschickt gebunden und geschnitten, und zwar halbkreisförmig, konnte sich die Puppe in kleinen „Schritten“ rund um den Tisch bewegen ohne herunterzufallen und so schier endlos tanzen! Hatte man mehrere solcher Strigúschki-Puppen, war es möglich, einen ganzen russischen Volkstanz aufzuführen.

Größere Strigúschki-Puppen wurden im Winter zwischen die Fensterrahmen gelegt, weil das Stroh die Feuchtigkeit gut aufnahm und die Rahmen bei Tauwetter nicht aufquollen, wenn der Raureif auf den Fenstern auftaute. Früher bekamen Kinder solche großen Puppen erst, nachdem diese ihren „Dienst“ zwischen den Fensterrahmen abgeleistet hatten.

Kubar

Ein Kubar ist eine besondere Form des Kreisels – ein Peitschenkreisel, der nach russischer Tradition mit einer Lederpeitsche angetrieben wurde, was das Spiel noch viel lustiger machte. Der Kubar wurde aus einem Zylinder mit einem Durchmesser von acht bis vier Zentimetern und einer Höhe von fünf bis elf Zentimetern gefertigt. Das Spielzeug war in der Rus so beliebt, dass es seit dem 10. Jahrhundert in verschiedenen archäologischen Schichten gefunden wurde. Mit einem Kubar spielten der Propheten Oleg, Prinz Igor und der spätere Großfürst Wladimir. Man kann getrost sagen, dass der Kubar zu den am weitesten verbreiteten Spielzeug im alten Russland gehörte.

Der Kubar wird mit der Hand angedreht und dann durch Peitschenhiebe weiter angetrieben. Es existieren viele Spielvarianten, aber den meisten Spaß bereitet es, den Kubar im Winter zu spielen – auf einem markierten Spielfeld auf einem zugefrorenen Fluss oder See. Zwei Spieler halten den Kegel abwechselnd mit der Peitsche in Bewegung und versuchen, ihn aus dem Feld auf die Seite des Gegners zu verdrängen. Wer den Kubar meisterhaft beherrscht, kann ihn entlang einer „Route“ mit Hindernissen führen oder ihn sich in der Luft überschlagen lassen. Und natürlich stammt der Ausdruck катиться кубарем vom Namen dieses Spielzeugs.

„Spielzeuge mit Bewegung“

Russische kinetische Spielzeuge, oder wie man früher sagte „Spielzeuge mit Bewegung“, setzten bereits besondere Fähigkeiten in der Holzschnitzerei unter Einhaltung der richtigen Proportionen voraus und sie wurden in Spielzeug-Manufakturen hergestellt. Es gab viele solcher Betriebe, jeder mit eigenem Stil und eigenen Traditionen. Aber die berühmtesten Manufakturen, in denen Holzspielsachen, einschließlich kinetischer Spielzeuge, professionell hergestellt wurde, befanden sich am Stadtrand von Sergijew Posad, vor allem im Dorf Bogorodskoje. Die Holzspielzeug-Fertigung entwickelte sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Bogorodskoje sehr intensiv, existiert dort aber schon seit Menschengedenken. Der Legende nach fertigte der Heilige Sergius von Radonesch selbst gerne Holzspielzeug und verschenkte es an Kinder.

Sergius’ Holzschnitzereien waren so kunstfertig, dass man sie mit Porzellanfiguren verwechseln konnte. Die Spielzeuge waren aus weichem Holz – Linde und Espe – gefertigt, dem gleichen Holz, das für Kirchenmöbel, Ikonostasen und Verzierungen verwendet wurde. Und darin haben die dortigen Meister jahrhundertelange Erfahrung.

Zentrum der Herstellung von „Spielzeug mit Bewegung“ war das Dorf Bogorodskoje, 30 km von Sergijew Posad entfernt, wo Spielzeuge buchstäblich in jedem Haus geschnitzt wurden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Spielsachen blieb das Spielzeug aus Bogorodskoje unbemalt – das Entscheidende war, dass sie sich bewegen konnten. Werfen wir einen Blick auf die berühmtesten „Modelle“. Zunächst ist da Der Mann und der Bär, die abwechselnd auf einen Amboss schlagen, wenn man den rechteckigen Untersatz bewegt.

Und dann gab es viele Spielzeuge mit einem hölzernen Gewicht, das an einem Faden aufgehängt war und an dem man durch Drehen im Kreise stehende Vögel dazu bringen konnte, Getreidekörner aufzupicken, Bauern mit einer Sense Gras zu mähen und so weiter. Das einfachste Spielzeug mit einem solchen Gewicht war ein Hase (oder ein Soldat) mit einer Trommel.

Spielzeug mit Klangerzeugung

Das berühmteste Klangspielzeug ist eine Nachtigall aus Ton, in die Wasser gegossen wurde. Der Vogel wurde so konstruiert, dass man das Schlagen der Nachtigall hören kann, wenn man in ihren Schwanz bläst. Die Kunsthistorikerin Jelena Kowytschewa schreibt: „Das Pfeifen in verschiedenen Tönen, das dem Vogelgesang ähnelt, verscheuchte nach Meinung unserer Vorfahren böse Mächte. Im Gouvernement Wjatka gab es sogar ein Frühlingsfest mit dem Namen Swistúnja oder Swistopljáska, bei dem die Kinder mehrere Tage hintereinander in solche tönerne Nachtigallen bliesen, um den Frühling herbeizurufen und böse Geister zu vertreiben. Die gleiche Funktion erfüllten viele Arten von Rasseln, Schnarren und Klappern.

Natürlich gab es auch verschiedene Tonpfeifen in Form von Tieren und Menschen, die nach dem Prinzip einer Okarina gestaltet waren. In Dymkowo (Gouvernement Wjatka), Chludnjew (Gouvernement Kaluga) und Abaschew (Gouvernement Pensa) gibt es noch immer eine Tradition der Tonspielzeug-Fertigung. Die Spielzeuge aus Abaschew bewahrten zum Beispiel über die Jahrhunderte hinweg eindeutig die alten Bilder von Fabeltieren, die an prähistorischeKunst erinnern.

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