Im zweiten Weltkrieg waren die USA und die Sowjetunion Verbündete. Abgesehen von der Feindschaft gegen Nazi-Deutschland hatte man aber nur wenig Gemeinsamkeiten. Beiden Seiten war das bereits während des Krieges klar. Um einen strategischen Vorteil gegen den ehemaligen Alliierten zu haben, entwickelte die Sowjetunion ein komplexes Spionagenetzwerk. Ziel war es, militärische und industrielle Geheimnisse der Amerikaner aufzudecken.
Da die USA in vielen Bereichen mit Kanada zusammenarbeiteten, beschloss man in Moskau, auch ein Spionagenetzwerk im nördlichen Nachbarland der USA aufzubauen. Mit Erfolg: Schon ein paar Monate später war Ottawa eine der wichtigsten strategischen Stützpunkte des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes.
Im Sommer 1943 schickte Moskau Oberleutnant Nikolai Sabotin als Militärattaché in die sowjetische Botschaft nach Ottawa. Er wurde damit beauftragt, ein sowjetisches Spionagenetzwerk im Westen aufzubauen und lokale Informanten anzuwerben. In Sabotins Team war auch der erst 28-jährige Kryptographieexperte Igor Gusenko. Seine Aufgabe war es, die Kommunikation, die oft in Geheimschriften abgehalten wurde, zwischen Moskau und Ottawa diskret zu koordinieren.
Für den jungen Mann und seine hochschwangere Frau war das Leben in Kanada ein extremer Gegensatz zum bisherigen Leben. In Kanada schien der Krieg in Europa weit weg, es gab keine zerstörten Städte und keinen Hunger. In der Sowjetunion dagegen war dies damals der Alltag. Nicht nur der Krieg, sondern auch die Repressionen Stalins hatten in den Jahren zuvor Millionen von Sowjetbürgern das Leben gekostet.
Durch diese Erfahrungen kam Gusenko zu der Ansicht, dass der westliche Lebensstil dem Sowjetischen überlegen war. In seinem Buch „Dies war meine Wahl“ schrieb er, „das viele Essen, die Restaurants, die Kinos, die riesigen Geschäfte und die scheinbar grenzenlose Freiheit der Menschen kamen mir wie ein Traum vor, aus dem ich bald aufwachen musste.“
Schon bald bekam Gusenko eine einzigartige Gelegenheit, seinen Traum für immer zu erfüllen. Normalerweise lebten die sowjetischen Diplomaten und ihre Familien in einem bewachten Gebäude, der sogenannten Kolonie. Ohne Genehmigung durften die Bewohner weder rausgehen noch Gäste empfangen. Eine Erlaubnis, außerhalb der Kolonie leben zu dürfen, wurde nur sehr selten erteilt. Der auf die Sowjetunion spezialisierte Historiker Jonathan Haslam von der Universität Cambridge hält dies aus sowjetischer Sicht für logisch. „Außerhalb der Kolonie hätten die sowjetischen Agenten ohne große Konsequenzen zur gegnerischen Seite überlaufen können.“ sagt er.
„In diesem Falle kamen Gusenko seine persönlichen Umstände zur Hilfe. Die Frau seines Vorgesetzten beschwerte sich regelmäßig darüber, dass sein Baby so laut schreien würde. Da die Wände in der Kolonie sehr dünn waren, konnte dadurch auch die Frau des sogenannten Militärattachés nicht schlafen. Man entschied sich daher, Gusenko rauszuwerfen und ihm eine zivile Wohnung zu besorgen.“
Für den jungen Vater war dies eine einmalige Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass weder er noch seine Familie je in die Sowjetunion zurückkehren müssten.
„Krieg. Russland.“
Gusenko kopierte geheime Informationen über das sowjetische Spionagenetzwerk für die USA und Kanada. Versteckt in seiner Kleidung schmuggelte er Kopien aus dem Botschaftsgebäude. Erwischt wurde er dabei nie.
Am 5. September 1945 verließ Gusenko erneut die sowjetische Botschaft. Statt nach Hause ging er jedoch zum Redaktionsbüro des Ottawa Journal. Dort hatte gerade der Nachtredakteur Chester Fowde Dienst. Dieser fragte Gusenko, worüber er sprechen wollte. „Krieg. Russland“ antwortete Guzenko. Fowde war verwirrt, der Zweite Weltkrieg war schließlich gerade vorbei und Kanada war nie im Krieg mit Russland gewesen. Dementsprechend nahm der Journalist Gusenko nicht ernst. Ein Russe, der kaum Englisch oder Französisch sprach und behauptete, dass der einstige Alliierte ein Spionagenetzwerk im Westen aufbauen wollte, wirkte schlicht nicht sehr glaubwürdig. „Wenn Sie wirklich Informationen über Spione haben, dann gehen Sie damit zur Polizei.“ riet Fowle.
Gusenko blieb keine andere Wahl, als in seine Wohnung zurückzukehren und von dort aus zu versuchen, die kanadischen Behörden zu kontaktieren. Zunächst musste er jedoch ein weiteres Mal die sowjetischen Behörden austricksen. Agenten des sowjetischen Geheimdienstes hatten inzwischen Wind von Gusenkos Verrat bekommen und gaben in Auftrag, sein Haus zu durchsuchen. Die einzige Chance für den jungen Überläufer und seine Familie war es, bei den Nachbarn um Hilfe zu bitten. Sie hatten Glück. Die kanadischen Nachbarn versteckten die russische Familie für eine Nacht. Die sowjetischen Agenten gingen unverrichteter Dinge wieder nach Hause.
Überraschenderweise waren die Behörden deutlich interessierter als die Medien. Gusenkos Geschichte drang bis zu Premierminister Mackenzie King durch. Durch die Hausdurchsuchung waren die kanadischen Behörden nun davon überzeugt, dass an den Behauptungen des Mannes etwas dran sein musste. Die Familie bekam Asyl, ein Auslieferungsgesuch der Sowjetunion wurde abgelehnt. Der Premierminister diskutierte die Angelegenheit nun mit US-Präsident Truman und Großbritanniens Premier Attlee.
Die drei Regierungschefs standen nun jedoch vor einem neuen Problem: Würde der sowjetische Spionagering in Nordamerika aufgelöst werden, würde man den ehemaligen Verbündeten provozieren. Der Frieden in Europa und der restlichen Welt wäre nur wenige Monate nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges erneut in Gefahr. Man beschloss die Angelegenheit geheim zu halten. Nur ein kleiner Zirkel der wichtigsten Politiker und Diplomaten der westlichen Welt wurden eingeweiht.
Dennoch geriet die Geschichte an den amerikanischen Journalisten Drew Pearson, der sie am 3. Februar 1946 der gesamten westlichen Welt enthüllte. Die kanadischen Behörden mussten nun doch ermitteln. Allein in dem nordamerikanischen Land wurden schließlich 39 Menschen festgenommen. In Großbritannien wurden die Atomphysiker Alan Nunn May und Klaus Fuchs wegen Spionage für die Sowjetunion verurteilt. In den Vereinigten Staaten führten Gusenkos Enthüllungen zur Hinrichtung von Julius und Ethel Rosenberg, den einzigen Amerikanern, die je in Friedenszeiten wegen Spionage exekutiert wurden.
Gusenkos ehemaliger Boss Sabotin wurde in die Sowjetunion zurückgerufen. Man benutzte ihn als Sündenbock. Er, seine Frau und sein Sohn kamen in den Gulag und wurden erst nach Stalins Tod 1953 wieder freigelassen.
Das Ansehen der Sowjetunion im Westen verschlechterte sich durch die Aufdeckung des Spionagerings erheblich. Der ehemalige Alliierte im Kampf gegen Hitler war nun in den Augen vieler Bürger im Westen die neue Hauptbedrohung für die freie Welt.
Gusenko selbst blieb in Kanada und bekam später sogar die kanadische Staatsbürgerschaft verliehen. Die Angst vor der Rache der Sowjets begleitete ihn jedoch ein Leben lang. Auch deswegen trat er niemals ohne Maske im Fernsehen auf. Ein Vergeltungsakt blieb jedoch aus. Gusenko starb am 15. Juni 1982 eines natürlichen Todes in seiner Wahlheimat Ontario.