Abgeschoben und verfolgt: Der Umgang mit Menschen mit Behinderungen in der Sowjetunion

Anatoli Golembijewskij, einer der kriegsversehrten Veteranen des Zweiten Weltkriegs.

Anatoli Golembijewskij, einer der kriegsversehrten Veteranen des Zweiten Weltkriegs.

Ivan Kurtov/TASS
Menschen, die in der UdSSR aufgewachsen sind, können sich nicht an Rollstuhlrampen oder behindertengerechte Toiletten in sowjetischen Städten erinnern. Behinderte Menschen waren im besten Fall zu „Hausarrest“ und im schlimmsten Fall zu unbezahlter Arbeit unter unwürdigen Bedingungen verdammt. 

Allein während des Zweiten Weltkriegs wurden etwa vier Millionen Sowjetbürger aufgrund von Verletzungen und Krankheiten ausgemustert. Etwa 2,5 Millionen von ihnen waren kriegsversehrte Veteranen, von denen 500.000 Gliedmaßen verloren hatten. Hat der sowjetische Staat Menschen rehabilitiert und ihnen geholfen, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, die ihre Gesundheit und körperliche Unversehrtheit der Verteidigung ihres Heimatlandes geopfert hatten? Auf dem Papier, ja. In der Realität ähnelte die Situation von Menschen mit Behinderungen in der UdSSR sehr stark der von Geisteskranken oder Sträflingen.

Auf den Straßen der Nachkriegs-UdSSR begegnete man oft Behinderten auf „Tragen“. Dabei handelte es sich um einfache Bretter mit vier Rädern. Beinamputierte fuhren darauf, indem sie sich mit Holzstäben von der Straße abstießen. Diese Stäbe hatten Griffe und waren für einen besseren Antrieb mit Lappen umwickelt. Es gab nicht genügend Rollstühle für alle Bedürftigen. Außerdem war die Produktion von komfortablen Rollstühlen und Kinderwagen in der UdSSR noch nicht etabliert.

Waleri Fefelow war ein körperlich beeinträchtigter Arbeiter und ein Vorreiter im Kampf für mehr Rechte von Behinderten in der UdSSR. Er verlor die Beweglichkeit seiner unteren Gliedmaßen infolge eines Wirbelsäulenbruchs im Alter von 17 Jahren. Waleri, damals Elektriker und Installateur, stürzte von der Stromleitung, weil seine Kollegen es versäumt hatten, sie rechtzeitig spannungsfrei zu schalten.

Fefelow erinnerte sich in einem Interview mit der deutschen Zeitung „Korrespondent“: „Sowjetische Rollstühle waren schwer, ihr Gewicht erreichte fast 40 kg, sie sind sperrig und unbequem zu benutzen. Sie können nicht zusammengeklappt werden, so dass man sie nicht mit auf Reisen nehmen kann. Sie passen nicht in den Aufzug, die Türöffnungen sind für sie zu schmal und selbst ein paar Stufen am Eingang eines Wohnhauses werden zu einem unüberwindbaren Hindernis.

Mehrere Personen helfen einem behinderten Veteranen aus dem Afghanistan-Krieg, die Treppe in seinem Rollstuhl hinaufzukommen, 1990.

Die sowjetischen Wohnstandards waren nicht auf das Leben eines Rollstuhlfahrers ausgerichtet - es gab keine Rollstuhlrampen an Eingängen und auf den Straßen, in Kliniken und anderen staatlichen Einrichtungen, und die Fahrt eines Behinderten mit dem Zug in eine andere Stadt erforderte die tatkräftige Unterstützung mehrerer starken Personen. Der Kampf der Behinderten um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wurde dadurch erschwert, dass die Behinderten selbst nicht in der Lage waren, soziale Einrichtungen aufzusuchen. 

Waleri Fefelow (rechts) und sein Buch „Es gibt keine Behinderten in der UdSSR“ (links)

In den 1950er Jahren begannen die Behörden, die Kriegsversehrten in spezielle Sanatorien unterzubringen. Das berüchtigtste davon befand sich auf der Insel Walaam. Viele der  Behinderten hatten nach dem Krieg keine Angehörigen mehr. Sie fanden in den Sanatorien und besonderen Einrichtungen ein Dach über dem Kopf und ein wenig Unterstützung. Diejenigen, die bei ihren Familien blieben, waren dazu verdammt, dauerhaft in der Wohnung zu bleiben.

Der Zugang für behinderte Menschen zu Hilfsmitteln, die das tägliche Leben erleichtern - zum Beispiel zu einfachen und mechanischen Prothesen, Rollstühlen und barrierefreien Fahrzeugen - war äußerst schwierig. Rollstühle von extrem schlechter Qualität sollten den Behinderten offiziell fünf Jahre lang kostenlos zur Verfügung gestellt werden, aber man musste mehrere Monate oder sogar Jahre warten, um einen zu erhalten. Prothesen oder mechanische Hilfsmittel für das häusliche Umfeld gab es in der UdSSR nicht. Der Kauf aus dem Ausland war während des Kalten Krieges verboten.

Behinderte Menschen erhielten Renten, die stets unter den Durchschnittslöhnen lagen und ihnen kein unabhängiges Leben ermöglichten. Waleri Fefelow weist darauf hin, dass noch in den 1980er Jahren die maximale Rente für die Gruppe der Personen, die den höchsten Grad der Behinderung hatten, bei 120 Rubel pro Monat betrug - bei einem Durchschnittsgehalt von 170 Rubel und den Kosten für einen Herrenmantel von 150-200 Rubel. Behinderte Kinder erhielten zur gleichen Zeit ein „Taschengeld“ von 20-30 Rubel pro Monat.

„Behindertenheime sind der Justiz nicht unterstellt.“

Unter diesen Umständen war eine große Zahl von Behinderten gezwungen, in „Behindertenheimen“ untergebracht zu werden, die dem Ministerium für soziale Sicherheit unterstellt waren. Die Behinderten wurden faktisch aus dem sowjetischen Rechtssystem entfernt.

Behinderte Menschen bei der Arbeit

Waleri Fefelow, der sich mit der entrechteten Stellung eines Behinderten in der UdSSR nicht abfinden wollte, begann, sich an die staatlichen Institutionen zu wenden und mit anderen Behinderten in Kontakt zu treten. In seinem 1986 in Deutschland erschienenen Buch „Es gibt keine Behinderten in der UdSSR!“ beschreibt Fefelow die Bedingungen, unter denen Behinderte in den sowjetischen Spezialeinrichtungen lebten.

Die Gesetzlosigkeit, die in den „Behindertenheimen“ herrschte, konnte nicht vor das sowjetische Gericht gebracht werden. Als Fefelow an das Volksgericht des Gebiets Saratow schrieb und sich darüber beschwerte, dass sein Brieffreund Gennadi Guskow im örtlichen Behindertenheim verprügelt worden war, erhielt er die folgende Antwort: „Die Behindertenheime fallen unter die Zuständigkeit des Ministeriums für soziale Sicherheit und sind nicht der Justiz unterstellt.“

Sowjetische Produktion von Beinprothesen

Der Staat bereicherte sich schamlos an den Behinderten. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, wurde zwar in den Verfassungen der UdSSR von 1936 und 1977 verankert, galt jedoch nicht für Menschen mit Behinderungen. So klebten diese Taschen und Umschläge, reihten Perlen auf, fertigten Klinken, Tür- und Fensterscharniere, elektrische Schalter, webten Schnurbeutel und banden Trauerkränze, strickten Wollsachen. All dies wurde dann vom Staat in Kaufhäusern verkauft.

„In der UdSSR gibt es keine Behinderten!“

Was die sportliche Integration von Behinderten betrifft, so gab es in der UdSSR keine. Fefelow schreibt, dass die sowjetische Regierung auf die Anfrage der Organisatoren der Paralympics  in Toronto 1976 geantwortet habe: „Können Sie sich das vorstellen - Behinderte und Sport?! Rollstuhlrennen zu veranstalten oder sie zu zwingen, Bälle zu werfen, ist unmenschlich gegenüber den Behinderten und den Zuschauern..., sagte KGB-Oberst Wladimir Schibajew.

Ein Behinderter nimmt an einem Rollstuhl-Rennen teil, Krim, 1989.

1976 verbreitete die Moskauer Helsinki-Gruppe ein Dokument mit dem Titel „Zur Lage der Behinderten“, das die Aufmerksamkeit der Welt und der sowjetischen Öffentlichkeit auf die ungeheuerliche Situation lenken sollte: „Behinderten Menschen wird das Recht auf angemessene Arbeit, Bildung, Erholung, gute Ernährung, Behandlung, ein normales persönliches Leben, körperliche Fitness und Sport vorenthalten.“ Dies hat die Aufmerksamkeit der Behörden auf die Dissidenten unter den Behinderten gelenkt. 

1978 gründeten Fefelow und seine Unterstützer die „Initiativgruppe für den Schutz der Rechte Behinderter in der UdSSR“ und begannen mit der Herausgabe eines Informationsbulletins. Die Gruppe forderte die Indexierung der Behindertenrente, begann mit der Herstellung mechanischer Hilfsmittel und komfortabler Rollstühle, der Gestaltung eines barrierefreien und integrativen städtischen Umfelds sowie initiierte Reformen des Sozialversicherungssystems für Behinderte.

Mehrere Personen helfen einem behinderten Veteranen aus dem Afghanistan-Krieg, die Treppe in seinem Rollstuhl hinaufzukommen, 1990.

Die Versuche der Gruppe, mit internationalen Behindertenorganisationen in Kontakt zu treten, führten zu einer Flut von Briefen und Einladungen, die aus dem Ausland kamen. Dies war der Grund für die Verfolgung von Fefelow und seinen Anhängern. Ihre Wohnungen wurden durchsucht, ihre Angehörigen wurden zum KGB vorgeladen und gezwungen, auf ihre behinderten Familienmitglieder einzuwirken. 1983 wurde Fefelow nach Westdeutschland abgeschoben, wo er und seine Familie politisches Asyl erhielten.

>>> Das Leben nach dem Krieg: Wie behandelte die Sowjetunion ihre Kriegsversehrten?

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