Warum versuchten sowjetische Juden 1970 ein Flugzeug zu entführen?

Russia Beyond (Aba Taratuta fund,Public Domain)
Die Beteiligten der Operation „Hochzeit“ wurden vom KGB verhaftet. Doch sie hatten mehr erreicht, als sie sich erträumt hatten.

Am 24. Dezember 1970 verbreiteten amerikanischen Fernsehsender diese Nachricht aus der UdSSR: 

„In Leningrad wurden heute zwei Todesurteile in einem Fall von versuchter Flugzeugentführung verhängt. Es ist das erste Mal, dass in einem Fall von Flugzeugentführung die Todesstrafe verhängt wurde", sagte ein Moderator auf NBC.

Der Prozess löste ein internationales Echo aus, und bald darauf sah sich die Sowjetunion gezwungen, ihr sogenanntes „Judenproblem“ anzugehen.

Der Sechs-Tage-Krieg

Präsident Reagan und Vizepräsident Bush treffen sich mit Avital Scharanski (Ehefrau des damals inhaftierten sowjetischen Dissidenten Natan Scharanski) und Yosef Mendelewitsch, 1981.

In den 1970er Jahren war die Auswanderung aus der Sowjetunion für viele ein unerfüllbarer Traum. Um die Sowjetunion in ein anderes Land zu verlassen, musste man ein Ausreisevisum beantragen - eine formelle Erlaubnis der Behörden zur Auswanderung. In der Praxis war es für viele Menschen unmöglich, ein solches Visum zu erhalten. In den 1970er Jahren wurde das Problem so akut, dass ein neuer Begriff für diejenigen aufkam, denen ein Ausreisevisum verweigert worden war - Otkazniki (dt.: Verweigerer).

Die sowjetischen Juden machten einen großen Teil der Ausreisewilligen aus. Die pro-arabische Haltung der Sowjetunion während des Sechstagekriegs 1967 - einem bewaffneten Konflikt zwischen Israel und einer Koalition arabischer Staaten - löste Unzufriedenheit unter den sowjetischen Juden aus.

„Zu dieser Zeit kam der ägyptische Präsident Abdel Nasser nach Moskau. Er sagte unverblümt, dass Israel ein ‚Krebsgeschwür auf der Weltkarte‘ sei und [dass es] zerstört werden müsse. Keiner der sowjetischen Führer hat ihm widersprochen. Das hat mich zutiefst verärgert", sagte Mark Dymschitz, einer der Verschwörer der geplanten Flugzeugentführung von 1970.

Juden aus der ganzen Sowjetunion äußerten den Wunsch, in ihr historisches Mutterland Israel zurückzukehren, aber die sowjetischen Behörden hatten andere Pläne, da eine Massenmigration die innere Stabilität und das sorgfältig aufgebaute Image der UdSSR im Ausland hätte untergraben können. Aus Enttäuschung über das System plante eine kleine Gruppe sowjetischer Juden eine gewagte Flucht aus der UdSSR. Sie wollten dazu ein Flugzeug entführen.

Operation Hochzeit

Standbild aus dem Film

Am Morgen des 15. Juni 1970 erschienen 16 sowjetische Juden, denen ein Ausreisevisum verweigert worden war, auf dem Flughafen Smolny bei Leningrad. Sie gaben sich als eine Gruppe aus, die auf dem Weg zu einer Hochzeit war - daher der Name der Operation - und waren auf dem Weg zu einem Flug nach Sortawala, einer sowjetischen Stadt nahe der finnischen Grenze, mit einer Landung in Priosersk, einer anderen sowjetischen Grenzstadt.

Der Plan, der ein Jahr vor der versuchten Entführung ausgearbeitet wurde, war recht einfach: Die Entführer würden gezielt ein kleines Flugzeug auswählen und alle Plätze belegen, so dass sich außer den Piloten niemand an Bord befinden würde, der nicht zu der Gruppe gehörte. Sobald das Flugzeug in Priosersk landen würde, würden die Entführer das Kommando übernehmen und die Piloten gefesselt, aber unverletzt auf der Landebahn zurücklassen, während einer der Verschwörer die Kontrolle über das Flugzeug übernehmen und es über die finnische Grenze weg von der UdSSR steuern würde. Sobald sie den Luftraum der UdSSR verlassen hätten, würden sie das Flugzeug nach Schweden steuern, wo sie sich ergeben und öffentlich ihren Wunsch nach Israel zu gehen, erklären würden.

„Ich hatte fast keinen Zweifel daran, dass wir verhaftet werden würden. Aber ich dachte, dass es für mich einfacher sein würde, die Sowjetunion zu verlassen, nachdem ich meine Strafe verbüßt hatte“, sagte Eduard Kusnezow, einer der Verschwörer.

Andere Mitglieder der Gruppe schienen die pessimistischen Erwartungen Kusnezows nicht zu teilen. Ein anderer Verschwörer schilderte, dass die Gruppe in Erwartung der riskanten Alles-oder-Nichts-Mission extrem aufgeregt war.

„Nur Leute, die so berauscht von Aufregung waren wie wir, konnten nicht verstehen, dass dieser [Flug] ein offensichtlicher Köder war", sagte Anatoly Altman, einer der Entführer. Altman bezog sich auf das Flugzeug, dass auf geradezu magische Weise auftauchte, als die Gruppe der sowjetischen Juden bereit war. In der Tat war es eine Falle des KGB, der die Kommunikation der Gruppe abgefangen hatte und sie seitdem beobachtete.  

Als sich die Gruppe dem Flugzeug auf der Startbahn näherte, wurde sie vom KGB festgenommen, bevor das Flugzeug überhaupt abheben konnte.

„Als ich die Schüsse hörte, hatten sie mich schon gepackt. Ich drehte mich um und sah, dass Dymschitz Blut im ganzen Gesicht hatte“, schilderte Iossif Mendelewitsch.  

Alle 16 Verschwörer wurden verhaftet und standen kurz darauf vor Gericht. In dem Prozess, der vom 12. bis 24. Dezember 1970 dauerte, wurden die Angeklagten des „Hochverrats“, des „Versuchs, sozialistisches Eigentum in großem Umfang zu stehlen“ und der „antisowjetischen Agitation und Propaganda“ angeklagt, da die Staatsanwaltschaft der Ansicht war, dass der Entführungsversuch einen Schatten auf das Ansehen der UdSSR in der Welt warf. 

Das Urteil war hart: Die meisten Mitglieder der Gruppe wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt; Mark Dymschitz und Eduard Kusnezow - die Anführer – sollten hingerichtet werden. 

Die Nachwirkungen

In Kikar Malchei Israel in TelAviv findet eine Protestkundgebung gegen die Leningrader Urteile statt.

Der Prozess und die harten Urteile lösten weltweit Proteste aus: Menschen aus verschiedenen Ländern protestierten und Staatsoberhäupter forderten die sowjetischen Behörden auf, Gnade walten zu lassen. 

Vielleicht wurden die Proteste durch die Darstellung der Angeklagten bei der Anhörung beeinflusst. „Wahrscheinlich ist es das erste Mal in der sowjetischen Geschichte, dass Angeklagte nicht um Begnadigung baten, sondern ihren Standpunkt vertraten und offen erklärten, dass sie das Land verlassen wollten“, so Eduard Kusnezow. „Wir wurden dazu gezwungen. Diejenigen, die uns dazu gezwungen haben, sind diejenigen, die schuldig sind.“ 

Nach dem Prozess herrschte im Westen die öffentliche Meinung vor, die Angeklagten seien Opfer des rigiden sowjetischen Systems. „Die wahren Angeklagten vor Gericht waren nicht die Handvoll Angeklagter, sondern die Zehntausenden von sowjetischen Juden, die mutig das Recht auf Auswanderung nach Israel gefordert haben", schrieb der Leitartikel der Times.

Die sowjetischen Behörden gaben dem wachsenden Druck nach und wandelten die meisten Urteile um, wobei sie vor allem die beiden Todesstrafen durch 15 Jahre Gefängnis ersetzten. Schließlich wurden Dymschitz und Kusnezow im Rahmen eines Agentenaustauschs zwischen den USA und der UdSSR im Jahr 1979 freigelassen. Andere mussten ihre Strafe verbüßen. 

Demonstration von sieben Verweigerern im Gebäude des regionalen KPdSU-Komitees Leningrad (ehemalige Smolny-Institution). 24. März 1987, Leningrad. Von links nach rechts: 1. Michael Beizer (mit Poster) 2. Aba Taratuta 3. Ida Taratuta 4. Boris Lokshin5. Lilia Shapiro 6. Inna Rozhanskaya-Lobovikova 7.

Seit diesem Zeitpunkt wurde das sogenannte „Judenproblem“ in der UdSSR jedoch zu einem wichtigen Aspekt der bilateralen Beziehungen zu den USA. 

Die Flugzeugentführung, der anschließende Prozess und die internationale Reaktion, die sie auslöste, markierten eine tektonische Verschiebung in der sowjetischen Innenpolitik. Innerhalb eines Jahres nach dem Prozess wurden den sowjetischen Juden mehr Ausreisevisa erteilt als in den zehn Jahren zuvor zusammen; im darauffolgenden Jahr waren es dreimal so viele, nämlich 32.000 Ausreisegenehmigungen. 

Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, wanderten Zehntausende von Juden nach Israel aus. Bis heute machen die Nachkommen aus den postsowjetischen Staaten einen beträchtlichen Teil der Gesamtbevölkerung Israels aus.

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