Erfolgreiche Geschäftsfrauen im zaristischen Russland

Kira Lisitskaja (Foto: Fred Morley, Heritage Images, Universal History Archive/Getty Images)
Im Gegensatz zu Europa herrschte im kaiserlichen Russland in Bezug auf geschäftliche Tätigkeiten Gleichberechtigung. Dies ermöglichte es vielen Frauen, erfolgreiche Unternehmerinnen zu werden.

In einer stark patriarchalisch geprägten Gesellschaft ist das schwer vorstellbar, aber laut der russischen Historikerin Dr. Galina Ulianowa waren etwa die Hälfte der russischen Wohltäter im 18. und 19. Jahrhundert Frauen. „Viele von ihnen waren nicht nur Ehefrauen, Witwen und Töchter wohlhabender Geschäftsleute", schreibt Ulianowa in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Women Merchants, Noblewomen, Women Tycoons" (zu Deutsch: Kauffrauen, Edelfrauen und weibliche Tycoons) .

Der Hauptunterschied zwischen den kaiserlich-russischen und den europäischen Eigentumsgesetzen hatte mit der Gleichstellung der Geschlechter zu tun. „Nach der Heirat erwarb der Ehemann keinen Rechtsanspruch auf das Eigentum seiner Frau (Anwesen, Haus, Land, Möbel, Kleidung, Schmuck, usw.), wie es in anderen Ländern der Fall war“", schreibt Ulianowa. Im Europa des 19. Jahrhunderts hatten verheiratete Frauen nicht das Recht, Eigentum zu besitzen oder sich unabhängig von ihren Ehemännern vor Gericht zu verteidigen. 

Das russische Reichsgesetz machte da keine Unterschiede. Auch eine Frau konnte ein Handelsunternehmen gründen und in den Kreis der Kaufleute aufgenommen werden, sofern sie die Steuern zahlte. 

Im 19. Jahrhundert stammte die Hälfte der Geschäftsfrauen in Russland aus Adelsfamilien. Von diesen erbten mehr als die Hälfte ihre Unternehmen von ihren Eltern, und nur etwa 20 Prozent von ihren Ehemännern. Die übrigen Unternehmerinnen wurden meist in Kaufmannsfamilien hineingeboren. In vielen dieser Familien, die Unternehmen besaßen und vererbten, wurden junge Mädchen in Mathematik und Buchhaltung sowie in der englischen und deutschen Sprache unterrichtet, um ein Unternehmen im Falle einer Übernahme erfolgreich führen zu können.  

Im zaristischen Russland gab es Tausende von Geschäftsfrauen. Wir stellen drei herausragende Beispiele aus Galina Uljanowas Buch vor. 

„Großes weltmännisches Taktgefühl“: Maria Morosowa (1830-1911) 

Porträt von M. F. Morosowa Walentin Serow, 1897.

Am Ende ihres Lebens hatte Maria Morosowa ein enormes Privatvermögen von über 30 Millionen Rubel angehäuft. Zum Vergleich: Zu jener Zeit belief sich die Summe aller im Russischen Reich erhobenen gerichtlichen und kirchlichen Steuern auf 54 Millionen, während der gesamte Haushalt des Landes 2,2 Milliarden Rubel betrug. Wie kam Morosowa zu solch einem Reichtum? 

Sie stammte aus zwei einflussreichen altgläubigen Familien, die Textilien produzierten - den Simonows und den Soldatjonkows. Mit 25 Jahren heiratete sie Timofei Morosow - den Erben der berühmtesten altgläubigen Textildynastie Russlands. Sie bekamen neun Kinder, bevor er 1889 starb. Doch Maria war bereit, das Familienunternehmen zu übernehmen. 

Maria Fjodorowna mit ihrer Enkelin.

Im Jahr 1873 gründete Timofei Morosow ein Unternehmen, zu dessen Gründern auch Maria gehörte. In Timofeis Testament wurde sein gesamtes Vermögen (fünf Millionen Rubel in Aktien, Wertpapieren und Bargeld) seiner Frau vermacht. „Sie war eine sehr durchsetzungsstarke Frau mit einem klaren Verstand, großem weltlichen Taktgefühl und unabhängigen Ansichten", schrieb Pawel Buryschkin, ein Zeitgenosse.  

Die Baumwollspinnerei Nikolskaja in der Nähe von Moskau war mit 17.300 Beschäftigten der zweitgrößte Betrieb Russlands. Sie war technologisch auf dem neuesten Stand, verfügte über die neueste Ausrüstung und wurde täglich von Maria persönlich von ihrem Büro in der Moskauer Innenstadt aus geleitet, nicht weit entfernt von ihrer märchenhaften Villa, die noch heute existiert.

Das Gebäude der Nikolskaja-Manufaktur, die den Morosows gehörte.

Bis zu ihrem Tod im Jahr 1911 versechsfachte Morosowa das Kapital ihres Unternehmens. Sie war eine der erfolgreichsten Geschäftsfrauen im kaiserlichen Russland. 

„Respektiert und gefürchtet“. Wera Alexejewa “ (1774-1849)

Wera Alexejewa übernahm das Geschäft ihres Mannes, als sie 49 Jahre alt war, nachdem dieser gestorben war. Ihr Unternehmen produzierte Gold- und Silberfäden für Parade-Stickereien (für Priester und hochrangige Beamte). Die Alexejews verkauften auch Wolle und Seide, besaßen Häuser in Moskau, 92 Geschäfte und 18 Lagerräume. All dies wurde von Vera und ihren beiden erwachsenen Söhnen geerbt. 

Alexejewa baute dieses Vermögen sogar noch weiter aus: 1849 besaß sie 30 Prozent aller Lagerräume in Gostinji Dwor, einem alten Marktplatz in der Nähe des Kremls. Stoffe von Tuch bis Seide und Kattun, Bänder, Hüte, Pelze - all das wurde in Alexejewas Läden verkauft. Sie musste sogar zusätzliche Räume anmieten, um die Mengen zu bewältigen. Mit ihren Geschäften und ihrer Fabrik verdiente sie jeweils etwa 100.000 Rubel im Jahr, eine stolze Summe (ein Regierungsminister erhielt zwischen 4.000 und 5.000 Rubel im Jahr). 

Eine Reproduktion der Zeichnung von Fjodor Aleksejew aus dem Fonds des Architekturmuseums der Akademie für Architektur der UdSSR. (1800er Jahren)

„Sie war streng und hochmütig, aber klug. Obwohl sie nicht viel Zärtlichkeit zeigte, hat sie uns zweifellos gut behandelt. Sie war gefürchtet und respektiert", schrieb ihr Neffe Nikolai Wischnjakow.  

„Nur eine Schuhmacherin“: Natalia Andrejewa (1832-1910)

Natalia Andrejewa.

Natalja Andrejewa war wenig gebildet - sie konnte im Grunde nur lesen und schreiben. Dennoch sorgte sie dafür, dass alle ihre Kinder die beste Universitätsausbildung erhielten. Als Andrejewa starb, hinterließ sie über 200.000 Rubel für zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen, und ihr Trauerzug war fast einen Kilometer lang. Ihre Enkelin Margarita Sabatschnikowa erinnerte sich, wie ein Passant ihren Onkel, Andrejewas Sohn, fragte, wer die Person sei, die mit solchem Pomp beerdigt werde. „Nur eine Schuhmacherin“, antwortete er. „Und wir sind ihre Nachkommen.“ 

Andrejewa hatte das Schuhmachergeschäft von ihrem Vater geerbt. Da er keine Söhne hatte, war die Tochter nach dem Gesetz die alleinige Inhaberin. Ihr Mann hatte ein eigenes Geschäft, in dem er Tee verkaufte. Natalia brachte zwölf Kinder zur Welt, von denen zehn überlebten. 

Als ihr Mann starb hat sie sich von der Trauer nicht überwältigen lassen. Mit 35 Jahren übernahm sie die Leitung aller Geschäfte. Obwohl sie keine formale Ausbildung genossen hatte, erledigte sie einen Großteil der Bürokratie selbst. 

Schüler und Lehrer der Alexandro-Mariinski-Samoskworetski-Schule in der Aula, 1907. Nach dem Tod ihrer Eltern wurde Natalia Andrejewa die Treuhänderin der Schule.

Natalia erzog ihre Kinder zu kaufmännischem Weitblick. Jeden Abend um Punkt 20 Uhr besuchten sie einen Buchhalter oder einen Rechtsanwalt zu Hause. Andrejewa nahm die Kinder auch mit ins Büro. 

Auf diese Weise lebte die Mutter den Kindern vor, wie Wohlstand erworben und aufrechterhalten wurde. Sie zeigte ihnen die Realitäten der Kaufmannsschicht. „Es war eine bewusste Politik der Mutter, die den Kindern zeigte, dass der Reichtum einer Familie auf Arbeit beruht und dass auch eine Millionärin jeden Tag zur Arbeit ins Büro kommen sollte, um ihre Millionen nicht zu verlieren“, schreibt Ulianowa. 

Nach Andrejewas Tod wurden in Moskau in ihrem Namen ein Krankenhaus und eine Bildungseinrichtung (für öffentliche Kurse) eröffnet. Beide Gebäude existieren noch immer und erfüllen ihren Zweck.

Dr. Galina Ulianowa ist leitende Wissenschaftlerin am Institut für russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, Russland. 

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