„Gorbatschow kündigte seinen Rücktritt an“: Der letzte Tag der UdSSR in Memoiren

Peter Turnley/Corbis/VCG/Getty Images
Am Morgen des 26. Dezember 1991 wachten die Bürger der Sowjetunion in einem anderen Land auf. Wir haben Tagebucheinträge von Menschen unterschiedlicher Berufe und sozialer Herkunft gesammelt – Einträge aus den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch der UdSSR.

Sergej Jesin, Schriftsteller:

Donnerstag. Gorbatschow trat gestern Abend zurück und hielt seine Rede im Fernsehen. Ich habe sie nicht gesehen. Es gibt niemanden, den ich mehr verachte. Ich bin ein Experte für Imitation. Das ist er, mein Held. Mein Traum ist es, ihm im Namen des Volkes eine Ohrfeige zu verpassen.

...Die Dinge stehen schlecht und übel: Das Geld, das auf dem Bankkonto angelegt wurde, verschwindet, das Leben wird immer härter und schwieriger. Vorgestern, am Sonntag, hat jemand um acht Uhr nachts die Windschutzscheibe meines Autos im Hof eingeschlagen. Zwei Tage lang zerbrach ich mir den Kopf darüber, ob ich sie wieder einbauen sollte.

Wladimir Bessonow, Historiker:

Das neue Jahr steht vor der Tür. Die jüngsten Ereignisse – das Elferabkommen [die Erklärung von Alma-Ata – Anm- d. Übersetzers], der Zusammenbruch der UdSSR de jure, die gestrige Erklärung von Gorbatschow, der nun mit allen möglichen Enthüllungen bedrängt werden wird (es ist unsere Nationalkrankheit, auf jemanden einzuprügeln, der sich nicht wehren kann, auch weil man dies ungestraft tun kann). Man wird ihn „beißen“, zweifellos mit großem Wohlgefallen – sowohl von links als auch von rechts. Armer Michail Sergejewitsch! (Die Nesawissimaja gaseta berichtet heute, dass ein Kasinobetreiber ihm einen Job für 1 Million Dollar angeboten hat).

Alle warten auf „Schlussverkaufspreise“, die Geschäfte sind leer. Absolute Ebbe! Aber die Menschen wird das Entsetzen erst nach den Feiertagen erfassen. Und sie werden am Morgen aufwachen... Im neuen Jahr wird alles anders und ich werde arbeitslos sein. Obwohl  mein derzeitiges Gehalt (270 plus 60 Rubel) niedriger ist als das Arbeitslosengeld (342 Rubel) (ist das nicht komisch?). Eine Flasche Champagner kostet in einem privat betriebenen Kiosk 150 Rubel, eine Jacke (Daunenjacke) 6.500 bis 7.000 Rubel, ein Hemd 300 bis 400 Rubel.

Ludmilla Poljakowa, Schauspielerin:

In Vorahnung der bevorstehenden Hungersnot von 1992 herrscht eine schreckliche Völlerei. Die Menschen hamstern Lebensmitteln, wo immer sie können. Ich habe das Gefühl, ich habe noch nie so viel gegessen. Auf Vorrat. Herr, vergib uns, hilf uns, unsere Würde ein kleines bisschen wiederzuerlangen!

Oleg Amitrow, Paläontologe:

Oma interessiert sich nicht mehr für Politik; wenn ich den Fernseher (abends) einschalte, bittet sie nicht wie früher darum, ihn lauter zu stellen, sondern leiser. Im Kreml wurde die rote Flagge durch eine Trikolore ersetzt, die Botschaften der UdSSR im Ausland wurden in russische Botschaften umgewandelt.

Juri Pominow, Journalist:

Am 25. Dezember erschien Michail Gorbatschow abends am Ende der Nachrichtensendung im zentralen Fernsehen, um seinen Rücktritt „aus prinzipiellen Gründen“ zu erklären. Ich weiß nicht, ob es mehr Drama oder Farce war. Ist dies die Art und Weise, wie der erste (und nun vermutlich letzte) Präsident eines solchen Landes die politische Bühne verlassen sollte?

Als M.S. [Gorbatschow] seine kurze Erklärung verlas, wollte er sich die Kehle befeuchten (und dafür gab es einen Grund!), aber das Glas, das er nahm, war leer.

Anatoli Tschernjajew, Gorbatschows Assistent für internationale Angelegenheiten:

Am Mittwoch, dem 25. [Dezember] beschloss M. S., seine letzte „Ansprache“ zu halten... Keine der Zeitungen druckte sie vollständig! Alle haben Angst vor Jelzin.

Am Morgen bat er darum, zu Bush durchgestellt zu werden (um 17 Uhr). Obwohl es Weihnachten war, spürte Pawel Palaschtschenko [der persönliche Dolmetscher Michail Gorbatschows – Anm. d. Red.] Bush in Camp David auf... Und der stimmte zu. M.S. führte das Gespräch in einem nahezu vertraulichem Ton – „auf Russisch“... „unter Freunden“... Aber es war auch das erste Mal, dass Bush auf seine Zurückhaltung verzichtete und er sprach eine Reihe lobender Worte, von denen viele später in seine Rede aufgenommen wurden – über das Ende der UdSSR und die Bedeutung Gorbatschows.

In Zimmer 41 (neben seinem Büro), wo er normalerweise vor den Fernsehkameras auftrat, versammelten sich zahlreiche Korrespondenten... Aber es ist beschämend – und symptomatisch – für uns, dass nur westliche Fernsehjournalisten um ihn herum schwirrten und die Bedeutung Gorbatschows für die Welt verkörperten, die die westliche Öffentlichkeit ihm zu Recht beimisst.

Ich stand am Rande, etwa acht oder zehn Meter von ihm entfernt. Es war eine Direktübertragung. Er war vollkommen ruhig und scheute sich nicht, in sein Manuskript zu schauen. Es lief recht gut „aus dem Stegreif“. Und von wem ich später auch befragt wurde – alle waren sich [in ihrer Bewertung] einig: Ehrenhaft und edel.

[Er ist] in der Tat eine tragische Figur, auch wenn es mir, der ich gewohnt bin, ihn „im Alltag“ zu erleben, schwerfällt, ihm dieses Etikett zu verpassen, mit dem er sicherlich in die Geschichte eingehen wird...

Um 8.15 Uhr am Morgen [des nächsten Tages – Anm. d. Red.] erschienen Jelzin und sein Gefolge im Empfangsbereich von Gorbatschows Büro. Er befahl dem diensthabenden Sekretär: „Na, dann zeig mal her!“ Und betrat das Büro...

„Da stand so ein Marmorteil auf dem Tisch... Wo ist das hin?“

Der Sekretär erklärt zitternd: „Da war kein solches Teil... Michail Sergejewitsch hat nie solche Stifte benutzt. Wir haben ihm immer eine Packung Filzstifte auf den Schreibtisch gelegt...“

„Nun gut... Und was ist da drin?“, fragte er und ging in den hinteren Raum (den „Ruheraum“). Er begann, die Schubladen des Tisches herauszuziehen. Eine war geschlossen.

„Warum ist die abgeschlossen?! Holen Sie den Hausmeister her!“

Jemand kam mit einem Schlüssel hereingerannt, schloss auf und ...die Schublade war leer.

„Nun gut...“

Gemeinsam verließen sie lachend das Büro. Im Weggehen rief er dem Sekretär zu: „Sei auf der Hut! Ich komme heute noch zurück!“

>>> Fünf tiefgreifende Konsequenzen des Zusammenbruchs der UdSSR

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