Es war die erste sichtbare Veränderung, als die rote Flagge der UdSSR über dem Kongresspalast im Moskauer Kreml eingeholt und die russische Trikolore gehisst wurde. Dies geschah 38 Minuten nach der Ansprache von Michail Gorbatschow im Staatsfernsehen, in der er seinen Rücktritt bekannt gab. Diese erste Änderung im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der UdSSR blieb jedoch in jenem Moment von den Bürgern weitgehend unbemerkt und drang erst später in ihr Bewusstsein.
Der Grund dafür war, dass kein Fernsehteam zu diesem Ereignis eingeladen worden war. An jenem Abend waren nur wenige Menschen auf dem Roten Platz und es schneite und regnete. „Ich habe nur ein paar Aufnahmen machen können, weil alles so schnell ging. Ruck-zuck wurde die rote Flagge eingeholt und dann hissten die Arbeiter schnell die russische Trikolore. Der historische Flaggenwechsel dauerte gerade einmal zehn Minuten“, erinnert sich der Fotokorrespondent Alexej Bojzow, einer der wenigen, die das Ereignis gefilmt haben.
Mit dem Zusammenbruch des Landes wurde auch die staatliche Preisbindung abgeschafft: Der Staat griff praktisch nicht mehr in die Preisbildung ein. Die Regierung bezeichnete diese Liberalisierung als eine notwendige Wirtschaftsreform. Anfang der Neunzigerjahre hatte die Warenknappheit alarmierende Ausmaße angenommen – einigen Berichten zufolge stand der Warenmenge in den Geschäften dreimal so viel Geld in den Händen der Bevölkerung gegenüber. Die Beamten hatten gehofft, dass die Reform lediglich Angebot und Nachfrage auf ein normales Niveau bringen würde.
Am Ende des Jahres waren die Preise vieler Waren jedoch um das Acht- bis Elffache gestiegen und 1993 waren sie sogar um das Tausendfache höher als noch 1990. Die Reform wurde im Volksmund als „Schocktherapie“ bezeichnet. Die Preisschilder in den Geschäften änderten sich manchmal mehrmals am Tag und machten die Ersparnisse vieler Familien zunichte.
Im Jahr 1992 wurde der Alkoholhandel vollkommen liberalisiert. Das staatliche Produktionsmonopol wurde abgeschafft und ausländische Hersteller erhielten grünes Licht. Die markanteste Marke dieser Zeit war der deutsche Primasprit mit dem aristokratischen Namen Royal. Ein Liter Royal war zwar 25 % teurer als die gleiche Menge Wodka, enthielt jedoch 96 % statt 40 % Alkohol. Verdünnte man ihn, konnte man so fast 50 % der Ausgaben sparen.
Royal wurde aufgrund seiner einprägsamen Werbung, seines geringen Preises und seiner Erschwinglichkeit sofort sehr populär – er wurde an jeder Ecke verkauft und war bald eine Art Symbol der Neunzigerjahre. „Die überall präsenten Werbeanzeigen für Royal, von denen es unglaublich viele gab, sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Wie auch die misstrauische Reaktion der Verkehrspolizei im Winter, wenn sie den penetranten Geruch aus dem Auto wahrnahmen, da wir diesen verdünnten Alkohol als Frostschutzmittel für die Scheibenwaschanlage nutzten“, erinnert sich der Schauspieler Juri Stojanow.
Mit der Popularität des importierten Alkohols stiegen jedoch auch die Todesfälle durch Alkoholvergiftungen, die sich bis 1994 vervierfachten. Damals betrug der Anteil des gefälschten ausländischen Alkohols sogar 67 %!
Wremja (dt. Zeit) ist die älteste und wichtigste Nachrichtensendung über die Ereignisse im Land und in der Welt. Sie beginnt um Punkt 21.00 Uhr auf dem landesweiten Fernsehkanal Perwyj kanal und ist zu eine nationalen Institution geworden. Im Intro war zur mitreißenden Musik von Georgi Swiridow die sich drehende Weltkugel zu sehen, von der ein Großteil rot eingefärbt war – die Sowjetunion. Ein roter Stern, der den Sternen der Kremltürme ähnelte, flog aus dem westlichen Teil der UdSSR und die Sendung begann.
Doch mit dem Zusammenbruch verlor die Darstellung der enormen Größe des Landes an Bedeutung und der Wechsel des Intros war ein weiteres Symbol das Ende einer Ära. Es wurde zunächst durch einen politisch neutralen Startbildschirm ersetzt, der Wahrzeichen verschiedener Regionen Russlands zeigte, und bald wurde das regionale Thema durch Aufnahmen aus der Nachrichtenredaktion des Fernsehstudios ersetzt. Alles, was heute von der sowjetischen Wremja übrig geblieben ist, ist die Titelmelodie.
Millionen von Menschen bekamen über Nacht eine Staatsbürgerschaft. Nach dem neuen Gesetz wurden alle Bürger der ehemaligen Sowjetunion, die zu diesem Zeitpunkt auf dem Gebiet des neu gegründeten Landes lebten, als dessen Bürger anerkannt. Gleichzeitig wurden die Pässe bis Anfang der Zweitausenderjahre nicht geändert – mit dem sowjetischen Pass war es noch zehn Jahre lang offiziell möglich, im Land zu leben und sogar ins Ausland zu reisen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass russische Staatsangehörige in ihrem sowjetischen Pass einen Stempelvermerk bekamen. Für weitere zehn Jahre blieben alle Bedingungen gleich: Die Menschen konnten Eheschließungen und Geburten registrieren lassen, einen Arbeitsvertrag schließen und so weiter.
In der Sowjetunion garantierte ein besonderes Logo – ein um 90° nach rechts gedrehter Buchstabe K (für качество, dt.: Qualität) – die Langlebigkeit der gekauften Waren. Es wurde nur auf Produkten angebracht, die von einer speziellen Kommission zertifiziert worden waren – diese überwachte den gesamten Produktionsprozess und sorgte so für die Einhaltung der Standards.
Das Zeichen, das mit Qualität assoziiert wurde, begannen viele Menschen nach 1991 schnell zu vermissen. Das Gütesiegel gab es nun nicht mehr und die Märkte wurden mit Importwaren überschwemmt, deren Herkunft nicht immer klar war und von denen nicht wenige Mengen und zweifelhafte Qualität aufwiesen. UdSSR-Nostalgiker erinnern sich noch: Damals bedeutete preiswert nicht automatisch schlecht und unzuverlässig. Übrigens leisten sowjetisches Geschirr und Möbel in vielen russischen Familien immer noch gute Dienste. Meist werden sie nicht ausrangiert, weil sie kaputt sind, sondern weil sie „langweilig“ sind.
Das sowjetische Geld mit dem Porträt von Lenin wurde aus dem Verkehr gezogen und der russische Rubel eingeführt. Die Bevölkerung des riesigen Landes hatte zunächst nur zwei Wochen Zeit, um maximal 30.000 Rubel umzutauschen (später wurde die Frist bis zum Ende des Jahres verlängert und das Limit auf 100.000 erhöht). Der Umtausch wurde dadurch erschwert, dass unbedingt der Reisepass (in den ein spezieller Vermerk vorgenommen wurde) vorgelegt werden musste und nur ein einziges Mal möglich war.
Es herrschte große Panik – die Menschen standen Tage lang und fanden Bekannte, die nichts zum Tauschen hatten, um das Umtauschlimit überschreiten zu können. Doch nicht alle hatten so viel Glück – die Ersparnisse vieler Menschen wurden einfach vernichtet.
„Es ist verständlich, dass die Reform den Bürgern einige Unannehmlichkeiten bereitete“, erklärte Viktor Gerastschenko, Leiter der Zentralbank, später. „Aber was hätte man sonst tun sollen? Als klar wurde, dass der einheitliche Rubelraum nicht länger aufrechterhalten werden konnte, bestand die Hauptaufgabe darin, die riesige Menge an sowjetischen Rubeln, die noch in den benachbarten GUS-Ländern im Umlauf waren, schnell von der Wirtschaft abzuschneiden. Zuvor waren sie ungehindert auf den Inlandsmarkt gelangt, was zu Engpässen und steigenden Preisen geführt hatte.“
Lenins Name war im Leben der Sowjetmenschen während der gesamten sechseinhalb Jahrzehnte zwischen seinem Tod und dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems eine konstante Größe. Mit wenigen Ausnahmen war der Leninplatz der zentrale Platz jeder Stadt in der UdSSR. Kinos, Schulen, Stadien, Universitäten, Bahnhöfe, Städte und Kolchosen waren nach ihm benannt. Die Mitglieder der Kinderorganisation, die Pioniere, nannten Lenin respektvoll „Großvater“ – für manche war er tatsächlich so etwas wie ein Familienmitglied, dessen zahlreiche Porträts auf Schritt und Tritt durchs Leben begleitete.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen sich die Dinge dramatisch zu verändern. Lenins Name verschwand allmählich aus den Titeln von Büchern, Artikeln und Dissertationen. Die Lehrpläne von Schulen und Universitäten werden umgestaltet. Die Ent-Leninisierung erreichte 1993 ihren Höhepunkt: Wie der Historiker Juri Piwowarow feststellt, macht die Presse Lenin zur Verkörperung des absolut Bösen. Im neuen Russland war dieser Kampf gegen den Personenkult jedoch weniger brutal als noch vierzig Jahre vorher nach dem Tod Stalins.
„All diese Metamorphosen fanden hauptsächlich im Journalismus, im Fernsehen und im Radio statt. <...> Die Entlarvung von Lenin geschah in der Sprache, hatte aber kaum Auswirkung auf die materielle Welt“, stellt Piwowarow fest. Der Abriss von Denkmälern erfolgte selektiv und es gab keine massenhafte Vernichtung seiner Abbildungen. Von den ehemaligen Republiken der UdSSR kann man das nicht behaupten – dort war die Ablehnung sowjetischer Symbole sehr ausgeprägt und mancherorts begann sie schon vor dem offiziellen Zusammenbruch des Landes. So wurde im April 1990 das erste Lenin-Denkmal in der heutigen ukrainischen Stadt Tscherwonograd abgerissen.
Die Auswahl an ausländischen Filmen, die die sowjetische Bevölkerung sehen konnte, war sehr begrenzt, aber mit dem Fall des Eisernen Vorhangs änderte sich die Situation schlagartig. Erstens besaßen nun plötzlich sehr viel mehr Menschen einen Videorekorder und zweitens eröffnete sich ihnen die wunderbare neue Welt der auf VHS aufgezeichneten westlichen Filme. Die ersten Videoverleiher tauchten auf – mit unlizenzierten Raubkopien, die in kürzester Zeit meist von einem einzelnen Sprecher „synchronisiert“ wurden.
Meist befanden sich die Kioske mit dem Videoverleih in einer kleine Ecke der Supermärkte und Kaufhäuser. Die Liste der Filme hatte der Verleiher in der Regel in einem Notizbuch notiert. Man musste eine Kaution hinterlegen (in Höhe des Preises der nicht gerade preiswerten VHS-Kassette) und die Gebühr für die Ausleihe zahlen. Der Verleiher vermerkte die Ausweisdaten des Kunden und das Rückgabedatum. Disney-Zeichentrickfilme und blutige Hollywood-Actionfilme waren besonders begehrt und wer seine Kassette nicht rechtzeitig zurückgab, musste eine saftige Strafe zahlen.
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