Russische Geschichte als Theaterstück: Der Zerfall der Sowjetunion

Grigory Avoyan
In dieser Folge erzählen wir, wie das größte sozialistische Imperium aller Zeiten in nur wenigen Jahren auseinanderfiel. Wie immer werden Länder und historische Figuren als Charaktere in einem Theaterstück dargestellt.

Besetzung:

UdSSR – eine sozialistische Supermacht mit vielen Atomwaffen.

RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik), Ukraine, Belarus, Kasachstan, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Moldawien, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Lettland, Litauen, Estland – 15 Republiken innerhalb der UdSSR (nicht alle sind gleichermaßen glücklich darüber).

Michail Gorbatschow – (relativ) junger und hübscher Generalsekretär der Kommunistischen Partei.

Boris Jelzin – Gorbatschows „Frenemy“, ein junger russischer Kommunist, der in der RSFSR eine gewisse Popularität genießt.

Mitglieder des SCSE (Staatskomitee für den Ausnahmezustand) – alte eingeschworene Kommunisten, die keine Reformen wollen.

Sowjetbürger – um 1985 gab es etwa 276 Millionen von ihnen.

Haftungsausschluss: Phrasen, die in dem Stück verwendet werden, sind keine genauen Zitate, sondern spiegeln die Handlungen der erwähnten Personen und die Ereignisse wider, die im entsprechenden Zeitraum aufgetreten sind.

1985

Michail Gorbatschow: Nun, meine sowjetischen Genossen, ich bin jetzt euer Generalsekretär.

Sowjetbürger: Ja, was auch immer. Zumindest ist dieser nur 54 Jahre alt, vielleicht hält er länger durch. Die vorherigen drei – Breschnew, Andropow und Tschernenko – sind innerhalb von drei Jahren gestorben!

UdSSR: Also, was haben wir hier? Es gibt viele Problemstellen: Wir sind stark vom Ölexport abhängig, denn wir brauchen das Geld, um Getreide zu kaufen... und die Ölpreise sinken seit 1981 beständig. Die Wirtschaft befindet sich im Stillstand, der Kalte Krieg droht die ganze Welt in einem nuklearen Weltuntergang versinken zu lassen. Für Marx und Engels hoffe ich, dass Gorbatschow uns aus diesem Loch heraushelfen wird.

Gorbatschow: Ich gestehe die Probleme ein und werde mein Bestes tun, um sie zu lösen, Genossen. Von nun an beginnen wir mit der „Uskorenije“ (zu Deutsch „Beschleunigung“), einem wirtschaftlichen Kurs, der darauf abzielt, den Westen einzuholen und unsere Schwerindustrie zu verbessern. Ich hoffe, wir werden erfolgreich sein.

Sowjetbürger: Aber das werden wir nicht.

Gorbatschow: Und wir werden eine Anti-Alkohol-Kampagne starten! Jetzt sofort!

Sowjetbürger: Gott, steh uns bei…

1986-1989

(Die Ölpreise fallen im Jahr 1986 von etwa 21 Euro auf rund zehn Euro pro Fass, die Sowjetunion büßt Geld ein durch ihre Alkoholsteuer, den Menschen fehlen Konsumgüter und manchmal sogar Lebensmittel.)

Gorbatschow: Ich führe die „Glasnost“-Politik (zu Deutsch „Transparenz“) ein! Nun, Genossen, könnt ihr unsere Probleme offen diskutieren und eure Meinung äußern. Außerdem werden wir aufgrund der benötigten Veränderungen von nun an dem „Perestroika“-Plan (zu Deutsch „Wiederaufbau“) folgen. Wir werden unser gesamtes Wirtschaftssystem umstrukturieren. Dafür müssen wir demokratischer werden, mit weniger staatlicher Kontrolle.

Kasachstan: Entschuldigen Sie die Unterbrechung, aber es herrschen gerade die ersten regionalen Unruhen. Die Kasachen protestieren gegen einen ethnischen Russen aus Moskau, der in der Partei aufsteigt.

UdSSR: Wir werden diesen Konflikt lösen, aber es gibt noch viel mehr...

Armenien und Aserbaidschan: Wir haben einen Konflikt um die autonome Region Bergkarabach, die hauptsächlich von ethnischen Armeniern bewohnt wird, aber innerhalb Aserbaidschans liegt. Es kommt zu Kämpfen und hunderttausende Menschen mussten bereits aus ihren Häusern fliehen!

Georgien: Es gibt Konflikte zwischen Georgiern und Abchasen! Sie wollen sich von uns lossagen, aber wir werden es nicht zulassen. Etwa 16 Menschen sind bereits gestorben.

Usbekistan: Wir haben auch gewaltsame Zusammenstöße – zwischen den Usbeken und den Mescheten. 103 Menschen sind tot...

Gorbatschow: Beruhigen wir uns alle erst einmal und versuchen, die Probleme friedlich und demokratisch zu lösen. Dennoch ist unsere Position klar: Eine Verschiebung der Grenzen ist nicht erlaubt! Wir leben schließlich alle in einem Staat.

Estland, Lettland und Litauen: Über diesen einen Staat... Unsere Völker erinnern sich daran, dass wir von 1920 bis 1939 als unabhängige Staaten lebten. Wir erklären hiermit unsere politische Souveränität. Unsere eigenen Gesetze haben jetzt Vorrang gegenüber den sowjetischen.

Aserbaidschan: Ich schließe mich an. Zentrale Behörden sind nutzlos, um meinen Konflikt mit Armenien zu lösen.

UdSSR: Großartig! Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten! Wir akzeptieren eure Unabhängigkeit nicht. Die Wirtschaft hat sich übrigens immer noch nicht erholt.

1990

Aserbaidschan: Der Pogrom in Baku war im Januar – etwa 90 Armenier wurden getötet.

Gorbatschow: Das können wir nicht dulden! Schickt die Truppen!

(Moskau schickte die Armee, um die Unruhen zu unterdrücken, zwischen 130 und 170 Bürger wurden getötet.)

Ukraine, Weißrussland, Kasachstan, Georgien, Armenien, Moldawien, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan: Wir erklären auch unsere Souveränität.

RSFSR: Wir auch.

UdSSR: Sogar du, Russland?!

Boris Jelzin: Ja, jetzt führe ich den Obersten Sowjet der RSFSR und konkurriere mit Gorbatschow in Moskau.

Sowjetbürger: Herrlich! Aber was ist denn jetzt mit der Wirtschaft und den leeren Regalen in den Geschäften?!

Kirgisistan: Übrigens haben wir auch traurige Nachrichten. Während der Unruhen in Osh im Juni bekämpften sich die Kirgisen und die Usbeken. Etwa 300 bis 600 Menschen sind tot.

Moldawien: Und wir haben einen Konflikt zwischen den moldawischen Behörden und der Region Transnistrien, die sich nicht von der Sowjetunion abspalten will. Die Situation spitzt sich zu.

Sowjetbürger: Mmmm ... stellt sich heraus, dass das sozialistische Prinzip der Völkereinheit irgendwie nicht funktioniert.

Estland, Lettland und Litauen: Hey Moskau, weißt du was? Kümmer dich selbst darum. Wir erklären hiermit unsere volle Unabhängigkeit von der Sowjetunion – wir sind raus.

UdSSR: Herr Gorbatschow, ich fühle mich nicht so gut...

Gorbatschow: Wir brauchen ein neues Modell für die Beziehungen zwischen den Zentralbehörden und den Republiken! Lasst uns ein Referendum abhalten – wir werden herausfinden, ob die Leute aus der Union dafür sind und mehr Macht an die Republiken abgegeben werden soll. Ich bin mir sicher, dass wir die Union gemeinsam retten können!

Sowjetbürger: Aber das werden wir nicht.

1991

Sowjetbürger: Okay, am 17. März hatten wir ein Referendum darüber, ob wir die Erhaltung der Sowjetunion wünschen.

Armenien, Georgien, Lettland, Litauen, Moldawien und Estland: Wirklich? Wir haben uns geweigert, teilzunehmen.

Georgien: Und ich ziehe mich aus der Sowjetunion zurück.

Sowjetbürger: Okay, die anderen neun Republiken haben aber an der Abstimmung teilgenommen! 76,4 Prozent stimmten für den Erhalt.

Gorbatschow: Großartig. Ich und die Präsidenten dieser neun Republiken treffen sich, um das Projekt einer neu gestalteten Union zu diskutieren.

Jelzin: In der Zwischenzeit werde ich Präsident der RSFSR. Wir haben jetzt zwei Präsidenten in Moskau – einen für die Sowjetunion und einen für Russland.

(Am 18. August bildeten acht hochrangige Kommunisten, darunter der Vizepräsident und der Premierminister von Gorbatschow, das SCSE und behaupteten, dass sie jetzt die höchste Macht innehätten.)

Gorbatschow: Was geht hier vor sich? Ich bin gerade im Urlaub auf der Krim...

SCSE: Hört mit diesem Unsinn auf! Wir werden die Sowjetunion vereint halten, mit allen 15 Republiken, nicht nur mit neun! Und wir verweigern diesen Unsinn über einen freien Markt und die Liberalisierung.

Sowjetbürger: Auf keinen Fall! Wir wollen die Stalin-Ära nicht zurückhaben.

Jelzin: Das ist verfassungswidrig! Ich gehorche dem SCSE nicht!

(Die Armee marschierte nach Moskau, tausende Moskowiter füllten die Straßen. Die Soldaten, die keine Befehle von dem SCSE erhalten hatten, griffen die Massen nicht an. Nur drei Menschen starben während der Auseinandersetzung. In zwei Tagen war „der Putsch“ vorbei und die SCSE-Mitglieder wurden festgenommen.)

Jelzin: Wir haben den Tag gerettet.

Alle Republiken (außer der RSFSR und Weißrussland): Herzlichen Glückwunsch, aber wir ziehen es trotzdem vor, die Union zu verlassen.

Gorbatschow: Wartet, wir können immer noch einen neuen Vertrag verhandeln, der eine Union Souveräner Staaten bildet! Eine flexible Konföderation, die viele Rechte an die Republiken abtritt.

Ukraine: Wir werden am 1. Dezember ein Referendum abhalten und die Bevölkerung fragen, ob sie eine volle nationale Unabhängigkeit unterstützen – 90 Prozent sagen Ja, also...

Jelzin: Ich werde Gorbatschow am 3. Dezember treffen und ihm sagen, dass es ohne die Ukraine, den engsten Verbündeten Russlands, keinen Sinn ergibt, einen neuen Vertrag zu unterzeichnen. Andernfalls werden die asiatischen Republiken in einer neuen Union dominieren und mehr Stimmen haben als Russland und Weißrussland.

Gorbatschow: Das war’s also?

Jelzin: Ja, das war‘s. Am 8. Dezember treffe ich die Präsidenten der Ukraine und von Weißrussland und unterzeichne mit ihnen das Abkommen von Beloweschskaja Puschtscha. Die Sowjetunion hört auf zu existieren, wir gründen die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), eine internationale Organisation, die nicht die Macht hat, ihre Mitglieder zu kontrollieren. Zwei Wochen später treten acht weitere Republiken – alle außer Georgien und drei baltische Staaten – der GUS bei, was bedeutet, dass die Sowjetunion nun endgültig der Vergangenheit angehört.

Gorbatschow: Großartig, jetzt bin ich Präsident eines nicht existierenden Staates. Am 25. Dezember trete ich in den Ruhestand und die sowjetische Flagge im Kreml wird entfernt und durch die russische Trikolore ersetzt. Von nun an kämpft jeder für sich.

>>> Russische Geschichte als Theaterstück: Russland verkauft Alaska an die USA

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