Wie Fürst Wladimir seinen Glauben wählte
Im späten 10. Jahrhundert regierte Fürst Wladimir die Rus von Kiew aus. Er sah, dass er von allen Seiten von neuen monotheistischen Mächten umgeben war. Seine Großmutter, Prinzessin Olga, von der man annimmt, dass sie ihn beeinflusst hat, war zum östlichen (griechischen) Christentum konvertiert. Sie wird in der russisch-orthodoxen Kirche als erste Christin verehrt.
In „The Tale of Bygone Years“ (zu Deutsch „Die Geschichte vergangener Jahre“) wird ausführlich beschrieben, wie Wladimir seinen Glauben wählte. Eines Tages, im Jahr 986, nach einem weiteren erfolgreichen Feldzug gegen die Wolga-Bulgaren, die sich zum Islam bekannten, erhielt Wladimir Besuch von Vertretern des muslimischen Glaubens, die ihm mitteilten, dass er trotz all seiner Weisheit und Stärke das „Gesetz“ nicht kenne.
Damit meinten sie, dass das russische Heidentum keine Regeln für die Lebensführung enthielt. Die Wolga-Bulgaren forderten den Prinzen auf, ihr Gesetz zu akzeptieren und Mohammed zu folgen. Wladimir forderte sie auf zu erklären, was ihr Glaube beinhaltete. Da die wichtigsten monotheistischen Thesen in allen vier Religionen weitgehend ähnlich waren, konzentrierte sich der Fürst - wie auch der Verfasser der Chronik - eher auf eine knappe und erschöpfende Definition der Unterschiede zwischen den Religionen.
Die Bulgaren sollen ihm geantwortet haben, dass die Hauptunterscheidungsmerkmale des Islam darin bestünden, dass man sich beschneiden lassen müsse, kein Schweinefleisch essen und keinen Wein trinken dürfe, aber nach dem Tod könne man mit den Frauen Unzucht treiben.
Wladimir war Sex nicht fremd - er hatte etwa fünf Frauen und zahlreiche Konkubinen. Die Idee der Beschneidung oder das Verbot von Schweinefleisch und Alkohol gefielen ihm jedoch nicht. Der Chronik zufolge sagte Wladimir einen legendären Satz: „Trinken ist die Freude der ganzen Rus. Ohne dieses Vergnügen können wir nicht existieren.“
Die Muslime zogen erfolglos ab, und bald folgten ihnen „Deutsche“ (wie alle Westeuropäer im alten Russland genannt wurden), die Gesandte des Papstes waren. Sie sagten zu Wladimir: „Unser Glaube ist das Licht; wir verneigen uns vor Gott, der Himmel und Erde, die Sterne und den Mond und alles, was atmet, geschaffen hat, während eure Götter nur Holz sind.“
Sie erzählten Wladimir auch von der Verpflichtung, ein nicht strenges „Fasten nach Kräften“ einzuhalten. Nachdem Wladimir den Abgesandten des Papstes zugehört hatte, schickte er sie mit den Worten weg: „Geht dahin, wo ihr hergekommen seid, denn unsere Väter haben das nicht akzeptiert.“ Westlichen Chroniken zufolge kamen die „Deutschen“ tatsächlich in früheren Jahren schon einmal in die Rus', aber die russischen Fürsten lehnten die Idee eines Bündnisses mit ihnen ebenso ab wie ihren Glauben.
Die Fürsten wählten stattdessen Byzanz. Wie sich herausstellte, war der erste Besuch der „Deutschen“ in Kiew von Prinzessin Olga organisiert worden. Sie hoffte, dass der byzantinische Kaiser, aus Angst vor einer möglichen Annäherung zwischen Russland und dem katholischen Europa und dem Verlust des Friedens mit Kiew, Zugeständnisse an die Kiewer Fürsten machen und ein für beide Seiten vorteilhaftes Abkommen schließen würde. Der Kaiser brauchte die russische Armee im Kampf gegen die Araber um Kreta. Und Olgas Kalkül erwies sich als richtig.
Nachdem die Gesandten des Papstes abgereist waren, erhielt Wladimir Besuch von den chasarischen Juden. Doch Wladimir war nicht beeindruckt von der Beziehung zwischen Gott und dem Volk, das er aus seinem Land vertrieben hatte und das zu einem wandernden Volk geworden war, und so wies er sie zurück: „Wenn Gott euch und euer Gesetz lieben würde, dann würdet ihr nicht über fremde Länder verstreut sein. Oder wollt ihr das auch für uns?“
Der Chronik zufolge wurde Wladimir anschließend von einem griechischen „Philosophen“ besucht. Er kritisierte die anderen Religionen und erklärte dem Fürsten ausführlich das Wesen des griechischen Christentums und seinen Glauben an einen Gekreuzigten. Wladimir war beeindruckt, beschloss aber, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen - und sich zwischen Islam und Christentum zu entscheiden. Er schickte seine vertrauenswürdigsten Gesandten aus, um die religiösen Riten und Gottesdienste dieser beiden Religionen zu beobachten.
Seinen Abgesandten gefiel nicht, was sie in den Moscheen sahen, doch der Gottesdienst in einer griechischen Kirche berührte sie zutiefst.
Warum die Christianisierung vorteilhaft für Russland war
Sowohl russische als auch westliche Historiker haben zahlreiche pragmatische Erklärungen für die Entscheidung der Rus für das griechische Christentum gefunden. Dem Historiker Wasili Kljutschewski zufolge bestand das wichtigste strategische Ziel der Kiewer Fürsten darin, ihre Grenzen vor einem Angriff eines äußeren Feindes zu schützen und die Außenhandelswege zu sichern.
Wladimir musste dafür sorgen, dass die Länder und Stämme, die in den besetzten Gebieten lebten, die erst kürzlich unter seiner Herrschaft vereinigt worden waren, aber immer noch zersplittert waren, pünktlich Steuern zahlten, seiner Regierung gegenüber loyal waren und ihr im Falle eines Angriffs von außen dienten.
Die Bekehrung Russlands zum Christentum - und zwar zu der aus Byzanz stammenden Form des Christentums - sei durch die zahlreichen kulturellen, handelspolitischen und politischen Beziehungen zwischen der Rus und Byzanz erleichtert worden, so Kljutschewski. Teilweise wurde sie auch durch den Wunsch von Byzanz angetrieben, einen Nachbarn zu „zähmen“.
Die in der Rus herrschenden Warägerfürsten hatten Byzanz mehr als einmal angegriffen. Um Überfälle der kriegerischen Heiden zu verhindern, hatte der byzantinische Kaiser lange vor Wladimirs Herrschaft Missionare in die Rus entsandt.
Darüber hinaus wollte Wladimir zweifellos von seiner Bekehrung zum griechischen Christentum profitieren. Im Jahr 988 eroberte er die byzantinische Stadt Korsun (das heutige Chersones auf der Krim) und forderte als Gegenleistung für den Frieden, mit der Schwester des Kaisers, Prinzessin Anna, verheiratet zu werden. Unter der Drohung, dass Wladimir in Konstantinopel einmarschieren würde, willigte der Kaiser ein. Er verlangte aber, dass Wladimir zuerst Christ werden müsse.
Die Heirat mit Anna war für Wladimir in erster Linie ein Zeichen von Prestige. Er galt nicht mehr als barbarischer, heidnischer Fürst, sondern als Verwandter des Kaisers. Die Chronik vermerkt eine wundersame Veränderung im Charakter des Fürsten nach seiner Taufe. Es wird berichtet, dass er der Unzucht abschwor und tugendhaft und barmherzig wurde. Bei ihrer Ankunft in Kiew wurde Prinzessin Anna von byzantinischen Klerikern und Geistlichen begleitet, die begannen, die Russen zum Christentum zu bekehren, das Lesen und Schreiben zu verbreiten und das Gesetz Gottes zu lehren.
Unabhängig von den wahren Gründen und den Umständen, unter denen Fürst Wladimir zum östlichen Christentum konvertierte, fand dieses Ereignis in der angegebenen Zeit statt und hatte enorme und weitreichende Folgen für die Geschichte und Zukunft Russlands. Fürst Wladimir wurde als den Aposteln gleichgestellt heiliggesprochen.