Leo Tolstoi wurde auf seinem Familienanwesen Jasnaja Poljana in der Nähe von Tula geboren und verbrachte den größten Teil seines Lebens dort. Doch sowohl in seiner Jugend als auch im Alter besuchte er oft Moskau und hielt sich hier lange Zeit auf.
Versuchen wir einmal, die Stadt aus der Sicht des russischen Schriftstellers zu betrachten.
Tolstois erste Adresse in Moskau – die Pljuschicha-Straße – lag nicht weit vom Nowodewitschi-Kloster entfernt, so dass er als Kind oft dort spazieren ging und den Ort sehr mochte. Heute steht nicht weit davon auf einem Platz mitten auf dem Dewitschje-Feld ein Denkmal für den Schriftsteller.
Das früheste Foto von Tolstoi – so sah er in seiner Jugend aus (1848, hier war er 20 Jahre alt).
Tolstoi hielt sich oft in dem Anwesen in der Powarskaja-Straße auf, das einst seinen Verwandten, der Familie Bode-Kolychew, gehörte. Es wird vermutet, dass genau dieses Gebäude als Vorlage für das Haus der Rostows in seinem Roman „Krieg und Frieden“ diente.
Dieses Haus in der Wosdwischenka-Straße 9 überstand den Krieg von 1812 und den großen Brand von Moskau. Auch hier war der Schriftsteller häufig zu Gast und verewigte das Erscheinungsbild des Gebäudes in Form des Hauses des alten Mannes Bolkonski in seinem Roman „Krieg und Frieden“.
Im Jahr 1836 wurde beschlossen, die riesige Zarenglocke, die im 18. Jahrhundert durch einen Feuerbrand beschädigt worden war, als Denkmal im Kreml aufzustellen und Scharen von Schaulustigen versammelten sich vor ihr. Der damals kleine Tolstoi, der 1837 zum ersten Mal nach Moskau kam, könnte einer von ihnen gewesen sein.
Im Jahr 1839 fand die feierliche Grundsteinlegung für die zukünftige Christ-Erlöser-Kathedrale zum Gedenken an den Krieg von 1812 statt. Der 11-jährige Tolstoi war Zeuge dieses Ereignisses und konnte damals noch nicht ahnen, dass er durch einen Roman über diesen Krieg berühmt werden würde. (Foto aus den 1880er Jahren).
Seitdem wurde sowohl die Kirche abgerissen und wieder aufgebaut als auch die Landschaft um ihn herum verändert. Doch das Gebäude des Bolschoi-Theaters, das 1856 erbaut wurde, hat sich seither kaum verändert.
Dies ist das Moskauer Anwesen von Tolstoi in Chamowniki, das er 1882 kaufte und bis 1901 jeden Winter hier verbrachte. Er hatte nicht vor nach Moskau zu ziehen. Aber es war einfacher, von dort aus mit Verlagen zu arbeiten und zudem studierten seine Kinder an einer der Universitäten.
Leo Tolstoi und seine Kinder.
Der Schriftsteller schuf in seinem Moskauer Haus etwa hundert Werke, darunter seine späten Meisterwerke: die Romane „Auferstehung“, „Kreutzersonate“, „Tod des Iwan Iljitsch“, „Kholstomer“ und „Hadschi Murat“ sowie die Traktate „Was ist mein Glaube?“. Das Foto zeigt den Schriftsteller im Arbeitszimmer seines Hauses in Chamowniki.
In diesem Haus lebte Tolstoi nicht dauerhaft, aber hier verbrachte er die Winter von 1882 bis 1901. Heute befindet sich dort das Museum mit dem Nachlass von Tolstoi.
Im Großen Saal des Hauses in Chamowniki wurden viele Gäste empfangen, viele liebten es bei der Familie Tolstoi zu musizieren – selbst Fjodor Schaljapin sang da und wurde musikalisch von Sergej Rachmaninow und Nikolai Rimskij-Korsakow begleitet.
Tolstoi war Zeuge der Errichtung eines weiteren symbolträchtigen Gebäudes in Moskau – 1883 wurde in diesem im russischen Stil gehaltenen Palast das Historische Museum eröffnet. Das rote Backsteingebäude fügt sich so harmonisch in das Ensemble von Kreml und Rotem Platz ein, dass ein ortsunkundiger Mensch nicht einmal vermuten würde, dass es Jahrhunderte später gebaut wurde.
1893 wurde anstelle des einstigen Spontanmarkts, den Tolstoi unumstritten miterlebt hatte, ein wahres architektonisches Meisterwerk auf dem Roten Platz errichtet: die Oberen Handelsreihen im pseudorussischen Stil. Heute heißt es nur noch kurz und knapp GUM (Gesellschaft der Oberen Handelsreihen) und ist eines der bekanntesten Geschäftszentren der Stadt.
Tolstoi hatte eine ganze Reihe von Bewunderern, die nach Jasnaja Poljana und Moskau reisten. Er traf auch berühmte Persönlichkeiten, darunter den Maler Ilja Repin, der mehr als nur einmal ein Porträt des Schriftstellers malte, und den Bildhauer Paolo Trubetzkoj, der auf dem folgendem Foto eine Büste von Tolstoi modelliert.
Den legendären Tolstoi konnte man oft bei einem seiner vielen Spaziergänge durch die Stadt höchstpersönlich begegnen. Auf dem Foto hier spaziert er beispielsweise mit seinem Sekretär Wladimir Tschertkow.
Im Jahr 1896 fand die feierliche Krönung von Nikolaus II. zum Zaren statt – die ganze Stadt war zu diesem Anlass unglaublich aufwendig geschmückt. Tolstois Frau und seine kleinen Kinder fuhren nach Moskau, um die Feierlichkeiten mitzuverfolgen.
Tolstoi aber, der für seine fast schon anarchistischen Ansichten bekannt war, blieb in Jasnaja Poljana und schrieb in sein Tagebuch: „Ich las von der Krönung und war entsetzt über die bewusste Täuschung der Menschen.“ Später kommentierte er auch den tragischen Tod von Menschen, ausgelöst durch eine Massenpanik auf dem Chodynka-Feld: „Ein schreckliches Ereignis in Moskau; der Tod von 3.000 Menschen“. Das Foto zeigt das geschmückte Paschkow-Haus gegenüber dem Kreml.
Tolstois Tante, Alexandra Andrejewna Tolstaja, war übrigens Ehrendame am kaiserlichen Hof – sie verteidigte den „Anarchisten“ Tolstoi oft sogar vor dem Kaiser.
In den 1890er Jahren wurde eines der außergewöhnlichsten Gebäude Moskaus gebaut – die neomaurische Villa des Kaufmanns Arseny Morozov in der Vozdvizhenka. Heute ist es das Empfangshaus der russischen Regierung, damals jedoch scherzte ganz Moskau über dieses Gebäude. Das Ganze entging auch Tolstoi nicht und spiegelt sich in seinem Roman „Auferstehung“ wider: Als der Protagonist Nechludow daran vorbeifährt, denkt er über den Bau eines „dummen, unnötigen Palastes für eine dumme, unnötige Person“ nach.
Tolstoi kannte verschiedene Seiten Moskaus – sowohl das prächtig geschmückte Moskau, als auch das arme, „bettelarme“. Das Foto zeigt den Sucharew-Markt und den inzwischen nicht mehr existierenden Sucharew-Turm. Dieser Ort gehörte zu Chitrowka, dem finstersten Viertel Moskaus, in dem es von Kriminellen und unsozialen Verhältnissen nur so wimmelte.
Eigentlich mochte Tolstoi Moskau nicht... und äußerte immer wieder, dass die Stadt voller Verruchtheit und Wichtigmacherei und zugleich voller Armut sei. „Mief, funkelnde Steine, Luxus, Armut. Verruchtheit. Die Übeltäter, die das Volk ausgeraubt hatten, versammelten sich, gewannen Soldaten für sich und schmierten Richter, um ihre Orgie zu bewachen und zu decken. Und vergnügen sich. Den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als auf die Gelüste dieser Leute einzugehen, um das zurückzuholen, was ihnen genommen wurde“, schrieb Tolstoi in sein Tagebuch. Das Foto zeigt Bettler in einer Notunterkunft.
Und doch unterscheidet sich das heutige Moskau sehr von dem, welches Tolstoi kannte – zu Sowjetzeiten wurde beispielsweise die Kitaj-Gorod-Mauer, die neben dem Kreml eine weitere militärische Sicherheitsfunktion erfüllte, abgerissen. In das Stadtzentrum konnte man nur durch bestimmte Tore in dieser Mauer gelangen. Im Folgenden ist eines dieser Tore abgebildet: das Wladimir-Tor auf dem Lubjanka-Platz.
In den 1870er Jahren wurde in Moskau die erste Pferdeeisenbahn – im Grunde ein Wagon, der von einem Pferd gezogen wurde – eröffnet. Leo Tolstoi begeisterte sich für sämtliche technische Neuheiten und genoss deswegen natürlich auch Fahrten mit der Pferdeeisenbahn. „Ich beobachtete mit Erstaunen und Freude, wie Leo (Nikolajewitsch) Tolstoi geschickt und „jugendhaft“ [im Alter von 72 Jahren] auf das Trittbrett des mit voller Geschwindigkeit fahrenden Wagons sprang (...) Im Wagon befand sich eine enorme Menschenmasse, so dass Leo Tolstoi lange auf dem Trittbrett stehen bleiben musste, bis die Fahrgäste zusammenrückten und ihm etwas Platz machten“, erinnerte sich der Historiker Nikolaj Nikolskij im Jahr 1900.
Und wie wir alle wissen, kommt das beste bekanntlich zum Schluss: Leo Tolstoi im Moskauer Zoo! Als einer der ältesten Zoos in Europa wurde der Moskauer Zoo 1864 gegründet und existiert noch heute.