Die romantische Anziehungskraft der sowjetischen „Elektritschka“ (FOTOS)

Sergei Sucharew/russiainphoto.ru
Elektrische Vorortzüge hatten nicht nur ihre eigene Atmosphäre, sondern wurden auch zu einem soziokulturellen Phänomen.

Der elektrische Mehrwagenzug wird in der russischen Sprache „Elektritschka“ genannt. Die ersten Züge dieser Art tauchten Ende der 1920er Jahre in der Sowjetunion auf. Bis in die 1950er Jahre gab es bereits ein großes Netz elektrischer Züge. Im Unterschied zu den Nacht- und Fernverkehrszügen verbanden sie relativ kurze Strecken.

Anders als andere Triebfahrzeuge konnten sie auf kurzen Strecken zwischen den Bahnhöfen schnell beschleunigen und bremsen. Außerdem waren sie relativ leise und verschmutzten die Umwelt nicht so stark.

Nachtzüge verfügten über drei Komfortklassen und Schlafplätze, während Elektritschkas nur eine Klasse und gewöhnliche Holzbänke mit drei Sitzplätzen hatten, die in gegenüberliegenden Reihen angeordnet waren. Die U-Bahnen hingegen hatten nur zwei lange Bänke, die sich an jeder Seite des Wagens befanden.

Die zu Sowjetzeiten üblichen Holzbänke wurden später durch Lederbänke ersetzt. Jeden Tag nutzten (und nutzen immer noch) Millionen von Menschen die Elektritschka, um von zu Hause zur Arbeit und zurück zu fahren. Zur morgendlichen und abendlichen Hauptverkehrszeit waren die Züge in der Regel überfüllt, so dass sich die Menschen manchmal regelrecht hineinzwängen mussten.

Während die Intervalle der U-Bahnen in Großstädten recht kurz waren - maximal fünf Minuten – musste man auf die nächste Elektritschka etwa 40 Minuten warten, so dass es wichtig war, einen solchen Zug zu erwischen.

Um morgens zur Arbeit zu kommen, musste man sehr früh aufstehen, da der Weg zur Arbeit manchmal bis zu zwei Stunden dauern konnte. Schlafende Menschen waren in der Elektritschka also eine ganz normale Sache. 

Da die Fahrgäste dieses Verkehrsmittel hauptsächlich morgens und abends nutzten, hatten die elektrischen Züge an Werktagen eine Mittagslücke.

An den Wochenenden und im Sommer verkehrten die elektrischen Züge jedoch häufiger und brachten viele Menschen mit all ihren Sachen, Setzlingen und Haustieren zur Datscha.

Die Elektritschka hatte auch einen sehr informellen Spitznamen - sobaka (wörtlich übersetzt „Hund“). Wenn die Leute Geld sparen wollten, fuhren sie zum Beispiel von Moskau nach Leningrad (heute St. Petersburg) nicht mit dem Nachtzug, sondern billiger - mit vielen Vorortzügen. Irgendwohin mit dem „Sobaka zu kommen“ („dobratsya na sobakakh“) war eine beliebte Redewendung. 

Ein weiterer tierischer Spitzname für die Elektritschka (und auch für andere öffentliche Verkehrsmittel) ist zayats (wörtlich „Hase“). Zu Sowjetzeiten gab es keine Drehkreuze oder ähnliches, so dass die Leute leicht in eine Elektritschka einsteigen konnten. Und wenn ein Fahrkartenkontrolleur auftauchte, rannten die Leute ohne Fahrkarte (Hasen) durch den Zug und stiegen am Bahnhof aus, um auf die andere Seite des Waggons zu laufen, wo der Kontrolleur bereits vorbeigekommen war.

Eine weitere Besonderheit waren die Händler, die sich in den Waggons tummelten. Sie hatten in der Regel Taschen mit unnützem Schnickschnack dabei und traten als wandelnde Reklame auf, indem sie lauthals verkündeten, wie sehr jeder diese tollen Dinge brauchte. Bettler und umherziehende Musikanten, die um Almosen bettelten, waren ebenfalls regelmäßige „Passagiere“ in der Elektritschka.

Die Elektritschka spielte auch im gesellschaftlichen Leben eine wichtige Rolle. Da es nicht viele Orte gab, an denen man sich versammeln konnte und das Geld für Restaurants fehlte, genossen die Menschen es, gemeinsam über kurze Strecken zu reisen und unterwegs nette Gespräche zu führen, einschließlich der Diskussion und des Austauschs von Büchern.

Sie konnten auch einfach nur Spaß haben und viele verschiedene Spiele spielen. 

Natürlich sangen sie auch gerne und spielten auf der Gitarre, dem wichtigsten sowjetischen Musikinstrument...

...oder dem Akkordeon.

Da die wenigsten Sowjetbürger ein Auto besaßen, benutzten viele von ihnen die Elektritschka. Wenn nicht, um zur Arbeit zu gelangen, dann um am Wochenende irgendwohin zu fahren, auf die Datscha oder einfach nur, um einen kleinen Ausflug in die Natur zu machen. Im Sommer ging es zum Pilze sammeln in den nächstgelegenen Wald, im Winter zum Skilanglauf oder einfach nur zum Picknick und Grillen. 

Die elektrische Eisenbahn spielte im Leben der Sowjetbürger eine so große Rolle, dass sie auch in der Kultur ihren Niederschlag fand. Eine Figur aus dem Oscar-prämierten Film „Moskau glaubt den Tränen nicht“ (1979) lernt ihre Liebe in einem elektrischen Zug kennen.

Man kann auch sagen, dass viele Menschen die Elektritschka hassten, weil sie oft sehr übel roch und wegen der vielen Trinker, Schlafenden und Bettler, die dort fast immer wohnten. Und ja, ein elektrischer Zug konnte so aussehen...

Und wenn man im Waggon keinen Platz fand, konnte man die gesamte Reisezeit in einem überfüllten Zugvorraum (auf Russisch: Tambour) verbringen, wo sogar geraucht wurde.

Und außerdem... Es gab nur zwei Toiletten für den gesamten Zug, ganz am Anfang und ganz am Ende. Und die waren fast immer in schlechtem Zustand!

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.

Weiterlesen

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!