Meine Freundin Olga und ich entschieden uns für zwei Zugfahrten im Süden Russlands - eine sechsstündige Fahrt von Astrachan nach Wolgograd und eine 22-stündige Fahrt von Wolgograd nach Sotschi.
Es ist schwer, nicht von der Pünktlichkeit der Züge in Russland beeindruckt zu sein. Unser Zug aus Astrachan fuhr exakt um 16:40 Uhr ab. Wie bei allen Zügen in Russland war an der Wand eine Karte angebracht, auf der die Ankunfts- und Abfahrtszeiten an jeder Haltestelle angegeben waren.
Die Fahrt von Astrachan nach Wolgograd war für russische Verhältnisse wirklich kurz (sechs Stunden und neun Minuten). Ich war gespannt auf die Flussüberquerungen, vor allem auf die Fachwerkbrücke über den Fluss Aschtuba, die vor kurzem für die zweigleisige Strecke verbreitert worden war. Die Priwolschskaja-Eisenbahn (Wolga-Eisenbahn) verbindet das europäische Russland mit Olja, einem Hafen am Kaspischen Meer. Ein kleiner Teil der Strecke verläuft sogar durch Kasachstan. Sie wird derzeit für den internationalen Nord-Süd-Verkehrskorridor ausgebaut.
Nachdem unser Zug Astrachan verlassen hatte, sahen wir fast keine Anzeichen menschlicher Aktivität, außer in der Nähe von Bahnhöfen. Auf dem Höhepunkt der Dämmerung stießen Olga und ich auf die Weite Russlands an, indem wir Kaffee aus einem Glas tranken, das sich in einem Podstakannik befand, einem traditionellen Teeglashalter, der das Markenzeichen einer Bahnreise in Russland ist. Die Bahnangestellten verkaufen Tee, Kaffee, Eis und Snacks zu etwas höheren Preisen als üblich. Um dies zu umgehen, bringen viele Reisende ihren eigenen Proviant mit. In allen russischen Zügen gibt es die Möglichkeit, an kochendes Wasser zu kommen. Der allgemeine Favorit auf russischen Zugreisen scheinen Instantnudeln zu sein.
Das russische Klischee, nicht mit Fremden zu sprechen, wird auf längeren Zugreisen über den Haufen geworfen. Es ist sehr schwierig, tagelang in einem „Coupé“ (Zugabteil für vier Personen) mit Menschen zu verbringen, ohne mit ihnen zu sprechen. Wir nahmen den Krasnojarsk-Adler-Express von Wolgograd nach Sotschi, einen Zug, der eine Stadt im Herzen Sibiriens mit einem Ferienort am Schwarzen Meer verbindet.
Als wir unsere Fahrkarten kauften, war meine Freundin Olga besorgt, weil sie ein Coupé mit zwei Männern teilen musste, die den ganzen Tag Wodka trinken und Brathähnchen essen würden. Zu Olgas großer Erleichterung saß in unserem Coupé eine kultivierte und freundliche junge Frau namens Ludmilla, die mit ihrer siebenjährigen Tochter aus einem Dorf in der Region Orenburg nahe der kasachischen Grenze nach Gorjatschi Kljutsch (zu Deutsch wörtlich „heiße Quelle“), einem für seine Balneotherapie bekannten Badeort, reiste, wo sie zukünftig leben wollten.
Die Mutter und die Tochter erzählten Horrorgeschichten über ihr kleines Dorf, das von der Pandemie sehr schwer getroffen wurde. Sie gehörten zu den Ersten im Dorf, die geimpft wurden, würden sich aber trotzdem nicht wohlfühlen, wenn sie dortgeblieben wären.
Olgas Befürchtungen über Wodka trinkende Männer waren nicht ganz unbegründet. In einem anderen Coupé unseres Wagens fand eine ganztägige Party statt, und ein freundlicher Mann in den 50ern, der sagte, er sei im Urlaub, wollte, dass ich mitfeiere, aber ich verzichtete. Ich war mehr als zufrieden damit, Geschichten über das Leben in einem sibirischen Dorf zu hören.
Der Zug war nicht gerade superbequem, vor allem im Vergleich zu einigen der moderneren Züge auf beliebten Strecken in Zentralrussland, aber er war sauber und einigermaßen geräumig. Auch die Toiletten waren makellos und wurden regelmäßig gereinigt. Das ist natürlich ein wichtiger Faktor, wenn man eine mehrtägige Reise plant.
Wir wollten das Essen im Salonwagen probieren, aber dazu mussten wir einen Wagen der Kategorie „Plazkart“ durchqueren, was an sich schon ein Erlebnis war. Der „Schlafsaal auf Rädern“ hatte eine Mischung aus Gerüchen von Alkohol über getrockneten Fisch bis hin zu gebratenem Hähnchen, neben einigen anderen bekannten und unbekannten Düften zu bieten.
Der Salonwagen war leer und strahle eine altmodische Eleganz aus. Es gibt nur wenige Erlebnisse, die sich mit einer guten Mahlzeit und dem Anblick der wechselnden Landschaften und Szenerien eines Landes vergleichen lassen. Unser Zug hatte ein spezielles Mittagsmenü, das Borschtsch, Salat, Nudeln und ein alkoholfreies Getränk enthielt. Trotz der faden Nudeln hat uns das Essen insgesamt sehr gut geschmeckt.
Hier ein Tipp für alle, die in Russland Souvenirs kaufen möchten: Die Zugbegleiter verkaufen an Bord einige davon. Ich konnte zwei hochwertige Podstakanniks erstehen, eines mit einem Alexander-Puschkin-Motiv und ein anderes mit einem geprägten russischen Doppeladler (Symbol des russischen Reiches). Die Teegläser, zu denen auch ein Glas gehörte, wurden in Russland hergestellt und waren von weitaus besserer Qualität als die Gläser, in denen in der Bahn Tee serviert wurde. Außerdem waren die Preise viel niedriger als in einem Souvenirladen.
Ich hatte schon immer eine irrationale Angst davor, von einem fahrenden Zug auf dem Bahnsteig zurückgelassen zu werden. Als ich jedoch sah, wie schwer die Koffer waren, die meine neuen Freunde im Coupé mit sich führten, konnte ich nicht anders, als ihnen meine Hilfe anzubieten. Auf der Karte im Waggon stand, dass der Halt vierzig Minuten dauern würde. Also wusste ich, dass ich ihnen leicht helfen konnte, ihre Koffer zu einem Taxi am Bahnhofsausgang zu bringen. Nachdem ich zwei unglaublich schwere Koffer eine lange Treppe hinauf und zum Haupteingang des Bahnhofs getragen hatte, wünschte ich Ludmilla und der kleinen Anna ein glückliches neues Leben in Gorjatschi Kljutsch. Es war halb zwei Uhr morgens und mein Verstand funktionierte nicht optimal. Sobald ich ein Hupen hörte, stellte ich mir vor, dass es mein Zug war und dass ich ihn verpassen würde. Ich rannte los, und als ich den Bahnsteig erreichte, stellte ich erleichtert fest, dass das Hupen von einem anderen Zug kam. Es dauerte noch mindestens zwanzig Minuten, bis mein Zug abfuhr!
Gegen sechs Uhr morgens, als wir noch im Tiefschlaf waren, klopfte die Schaffnerin an unsere Tür und teilte uns mit, dass sich der Zug Sotschi näherte. Wenn sie uns nicht geweckt hätte, wären wir noch eine halbe Stunde bis zum Endziel Adler gefahren.
Diese beiden kurzen Zugfahrten weckten in uns den Sinn für Abenteuer. Irgendwie müssen wir einen Weg finden, noch einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn zu reisen, diesmal vom europäischen Teil Russlands zum östlichen Ende des Landes!
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!