Wann trugen russische Männer Ohrringe und warum?

Russia Beyond (Konstantin Makowsky / Sumy Nikanor Onatsky Kunstmuseum. Nikanor Onatsky, Ukraine, Sumy; Staatliches Historisch-Architektonisches und Kunstmuseum-Reservat Aleksandrowskaja Sloboda
Für einen altrussischen Fürsten war ein Ohrring so selbstverständlich wie für einen Kavalleristen in den napoleonischen Kriegen. Und im moskowitischen Russland wurden Männerohrringe zu einem wertvollen Teil des Erbes oder der Mitgift.

In der Rus

Fürst Swjatoslaw Igorewitsch, ill. F. Solnzew / Album

Russische Krieger lassen sich seit dem Altertum die Ohren piercen. Ein Ring im Ohr wurde von den Kriegern ursprünglich als Talisman gegen böse Mächte, aber auch als Statussymbol getragen. Je teurer und aufwändiger der Ohrring und je mehr Perlen oder Edelsteine er enthielt, als desto edler galt sein Besitzer.

Ohrringe waren bereits in den Ulus der Goldenen Horde bekannt und verbreiteten sich von dort aus nach Russland. Zunächst waren sie  als Odinjez (eine Art Kreole) beliebt. Später, ab dem 14. Jahrhundert, verbreiteten sich die Ohrringe mit einem nach unten schwenkbaren Anhänger (in Form eines Fragezeichens), auf dem eine oder mehrere Perlen aufgereiht waren.

Iwan-Tsarewitsch auf dem Grauen Wolf, 1889, Wiktor Wasnezow / Staatliche Tretjakow-Galerie.

Ab dem 16. Jahrhundert gab es „Zwillings“- und „Drillings“-Ohrringe – mit zwei bzw. drei Gliedern. In der Beschreibung der Schatzkammer des Fürsten Dimitri Iwanowitsch von Uglitsch finden sich „große“ und „dreifache“ Ohrringe mit Steinen aus Jachont und Lal , die mit Goldkörnchen aus Nowgoroder und orientalischer Herstellung verziert waren. Ein Jachont ist ein Saphir oder Amethyst, ein Lal ist meist ein Spinell oder ein Rubin. Die Ohrringe wurden aus Gold, Silber oder einer Kupferlegierung hergestellt, vergoldet und mit Perlen verziert.

Natürlich wurden Ohrringe in Russland nicht nur vom Adel getragen. Einfache Kupferohrringe in Form eines nicht geschlossenen Halbmondes wurden auch von der einfachen Bevölkerung getragen. Im 17. Jahrhundert wurde ein „zerbrochener“ Ohrring als Eigentum eines Bauern erwähnt, was beweist, dass auch schadhafter Schmuck in Bauernfamilien geschätzt und aufbewahrt wurde.

Doppelte Ohrringe, Ende 17. Jahrhundert. Russland.

Und was ist mit den russischen Frauen? Wie die Archäologin Natalja Schilina schreibt, „war das Ursprüngliche an der slawisch-russischen Kleidung das Tragen großer Tempelringe, die mit einem Metallkranz befestigt waren; im achten Jahrhundert verbreiteten sich Miniaturohrringe mit pro-byzantinischem Aussehen. Allerdings trugen russische Adelsdamen im 14. bis 15. Jahrhundert keine teuren Ohrringe, sondern als zeremoniellen Schmuck eine Rjasna – einen Metallkranz, der auf den Kopf gesetzt wurde.“

Rhyasny - Anhänger zum Kopfschmuck. Rus, 12. Jahrhundert. Silber, Vergoldung, Löten, Filigran, Maserung.

Es ist bezeichnend, dass im 16. Jahrhundert Iwan Borissowitsch, der letzte Fürst der Rus, „zwei Ohrringe aus Jachont und den dritten aus Lal“ von seiner Mutter erbte und sie seiner Schwester schenkte, der keine Mitgift mitgegeben wurde. Das heißt, die Ohrringe hatten damals noch keine feste Geschlechtsidentität. Kostbare Ohrringe für Frauen wurden im 16. und 17. Jahrhundert, bereits unter dem Einfluss der europäischen Kultur, wieder populär; in den Beschreibungen des Besitzes der Zarin Anastasia, der ersten Frau von Iwan dem Schrecklichen, finden wir „Ohrringe mit Rosenmuster“.

Die Kosaken und die Noblesse 

Stepan Rasin, 1985-1988.

Mit der Ausdehnung des russischen Staates gab es immer mehr Kosaken, freie Menschen, die sowohl Bauern, Kaufleute als auch Soldaten der Kosakenarmee waren, die die Grenzen des Landes schützten. Unter ihnen wurden die Ohrringe zu einer Art Erkennungszeichen in der Truppe.

Der Ohrring im linken Ohr wurde von den Kosaken getragen, die die einzigen Söhne (oder auch Schwestern) der Familie waren. Ohrringe in beiden Ohren verwies auf das einzige männliche Kind. Und ein Ohrring im rechten Ohr war ein Zeichen für den letzten Mann in der Familie. Sie versuchten, sie nicht auf gefährliche Missionen und ins Getümmel mitzunehmen.  

Saporoschje-Kosaken, 1884, Konstantin Makovsky.

Im 17. und 18. Jahrhundert kamen Männerohrringe beim russischen Hochadel kurzzeitig aus der Mode: Damals wurden sie vor allem Kosaken getragen, aber auch von europäischen Seeleuten, Soldaten und Handwerkern, die im Moskauer Reich immer zahlreicher wurden. Für Kunsthandwerker aus den deutschen Landen war ein goldener Ohrring oft ein „Notgroschen“, den man nur schwer verlieren, der aber verpfändet oder verkauft werden konnte.

Porträt eines Mannes, ca. 1610-1620, Frans Pourbus.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen goldene Ohrringe wieder in Mode, vor allem in militärischen Kreisen. Der Historienschriftsteller  Michail Pyljajew erinnerte daran, dass diese Mode „aus dem Kaukasus, von den Georgiern und Armeniern“ kam, wo damals der Kaukasuskrieg im Gange war, an dessen Schlachten viele russische Offiziere teilnahmen. „Die Ohrringmode blühte vor allem unter den Soldaten der Kavallerieregimenter auf, und es ist schwer zu glauben, dass die Husaren früherer Jahre, die ,schneidigen Gesellen‘ alle dieser weiblichen Mode folgten und nicht nur Offiziere, sondern auch Soldaten Ohrringe trugen“, schrieb Pyljajew. „Weibliche“ Mode wurde es vor allem deshalb genannt, weil die Militärs den Schmuck ihrer geliebten Damen trugen – als Talisman und sentimentales Geschenk.

Der Ohrring in der UdSSR

2. September 1996: Der Anführer des Motorradclubs Night Wolves Surgeon General im Pionierlager Mir in der Nähe von Moskau während des Festivals der Internationalen Motorradausstellung.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war ein Ohrring im Ohr eines Mannes bereits nur noch ein Attribut für einen Kosaken oder einen Zigeuner, wie damals die Sinti und Roma genannt wurden. Im sowjetischen Staat, vor allem mit der Verschärfung der Lebensbedingungen in den 1930er Jahren, wurde jedes Detail des männlichen Erscheinungsbildes, das dem Image einer Frau entsprach, schroff abgelehnt. Sowjetische Beamte und Arbeiter konnten es sich nicht leisten Siegel- oder Ohrringe zu tragen – dies wäre als „bürgerliche Extravaganz“ angesehen worden. Selbst Eheringe kamen in den ersten Jahrzehnten der UdSSR aus der Mode.

Der engagierte, körperlich starke und betont männliche Arbeiter und die berufstätige Frau, die die Fesseln der häuslichen Sklaverei abstreift, passten irgendwie nicht zum Bild dieser Schmuck tragenden Sowjetbürger. Und während der Frauenschmuck allmählich ein Comeback erlebte, sollte der Männerschmuck noch lange Zeit ein Zeichen für das „dekadente Leben“ bleiben.

Wiktor Zoi,

Natürlich wurden Ringe von Modefreaks, Geschäftsleuten und „Dandys“ getragen. Aber ein Ring im Ohr eines Mannes blieb in der Sowjetunion lange Zeit ein Tabu – selbst die Hippies trauten sich nicht, Ohrringe zu tragen. Erst in den 1980er Jahren kehrte dieser Schmuck, meist als Kreole, an die Ohren von Punks und Rockmusikern zurück, allerdings nur an die linke Seite. Bis vor kurzem war ein Ohrring im rechten Ohr eines Mannes ein Hinweis auf eine alternative sexuelle Orientierung, aber seit den 2010er Jahren, mit der Globalisierung der Mode, ist diese Unterscheidung so gut wie verschwunden.

Wie überall auf der Welt tragen Männer in Russland heute oft nicht nur Ohrringe, sondern auch Tunnel in ihren Ohrläppchen, was ihnen ein wirklich bedrohliches Aussehen verleiht. Eine solche Mode hätte sicherlich auch den alten Bürgerwehren und Kosaken gefallen.

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