Kartoffelaufstände: Wie und warum russische Bauern gegen die „Teufelsäpfel“ kämpften

Geschichte
GEORGI MANAJEW
Für eine Kartoffel zu sterben oder zur Zwangsarbeit an einem Festungsbau geschickt zu werden - ein solch bitteres Schicksal ereilte tatsächlich einige russische Bauern Mitte des 19. Jahrhunderts, als im Russischen Reich die so genannten „Kartoffelaufstände“ ausbrachen.

In der Stadt Dolmatow (heutiges Gebiet Kurgan) überfielen Bauern den Vorsteher des Wolost (einen gewählten Beamten), schlugen ihn, rissen ihm die Kleider vom Leib und versuchten, ihn und drei Diensthabende des Wolost im Fluss zu ertränken. Die Beamten mussten sich ins Kloster flüchten, aber auch von dort versuchten die Bauern, sie zu vertreiben. Es gelang ihnen nur mit Blindschüssen aus den Kanonen des Klosters, die aufgebrachte Menge im Zaum zu halten.  

Im Dorf Baturino im Bezirk Schadrinskij suchten die Gemeindevorsteher, die Priester mit ihren Frauen und die Kirchendiener - insgesamt über 150 Personen - in der Kirche, die die Bauern zu stürmen begannen, Schutz vor den aufständischen Bauern. Es blieb den Angegriffenen keine andere Wahl, als scharf zu schießen.  

In der Gemeinde Kargopolskaja im gleichen Landkreis griffen die Bauern den Pfarrer und den Diakon an, übergossen sie mit eiskaltem Wasser, zwangen sie, Erde zu essen. Danach verlangten die Herausgabe einer „Verkaufsurkunde“, nach der die Bauern Kartoffeln angeblich zum Kartoffelanbau verpflichtet werden sollten.  

Natürlich waren die Kartoffeln, deren Anbau tatsächlich kraft Regierungsverfügung angeordnet worden war, nicht der einzige Grund für die Unruhen. Die Bauern, die die Knolle als „Teufelsapfel“ bezeichneten, dämonisierten jedoch die unbekannte Pflanze und erfanden gleichzeitig zahlreiche andere Mythen. 

Der wahre Grund der Bauernaufstände 

Obwohl die Kartoffel bereits unter Peter dem Großen nach Russland kam, war sie nur auf den Tischen der Aristokratie zu finden. Erst 1765 gab der Regierende Senat den Erlass „Über den Anbau von Erdäpfeln, sogenannten Kartoffeln“ bekannt. Er enthielt Empfehlungen für deren Anbau und wurde mitsamt Kartoffelsamen an alle Gouvernements verschickt. Die Bauern aber zögerten mit der Kultivierung der seltsamen Wurzelpflanze. Anfangs kam es oft zu Solaninvergiftungen - aus Unwissenheit aßen die Bauern die Früchte der Kartoffel (Beeren), unreife oder umgekehrt gekeimte Kartoffeln. Vielleicht wurde der „Erdapfel“ in der russischen Bauernschaft deshalb auch „Teufelsapfel“ genannt. 

In den 1840er Jahren kam es in den Ural-Gouvernements Perm und Wjatka zu Aufständen gegen den obligatorischen Kartoffelanbau, die nicht von den Großgrundbesitzern, sondern von den auf staatlichen Parzellen arbeitenden Bauern angeführt wurden. Diese unterstanden dem 1837 gegründeten Ministerium für Staatseigentum unter der Leitung des Grafen Pawel Kisyljew. Es handelte sich um einen Bauernstand, der weder dem Grundherrn (Leibeigene) noch dem Zaren (Kronbauern) gehörten, sondern als freie Landbewohner galten, die einen Tribut an den Staat zahlten. Zu den Urhebern der Reformen des Kronbauernstandes, die mit der Schaffung des Ministeriums im Jahr 1837 begannen, gehörten neben Pawel Kiseljew auch Graf Jegor Kankrin, der Finanzminister (er war bis 1837 für die Kronbauern zuständig). Kiseljew war im Geiste europäischer Werte aufgewachsen und führte sogar ein persönliches Tagebuch in französischer Sprache. Jegor Kankrin wiederum war deutscher Abstammung und konnte sich auf Russisch nur mit Mühe verständigen. Die europäisierten Beamten interessierten sich nicht für die Meinung des Volkes, da sie, wie der Historiker Igor Menschtschikow schreibt, davon überzeugt waren, dass „das Volk finster und abgeneigt gegenüber Verbesserungen und damit verbundenen Neuerungen ist und daher einer ständigen Bevormundung durch den Staat bedarf“. Dies alles missfiel den Bauern und entfachte ihren Widerstandsgeist.

Im Jahr 1840 veröffentlichte das Ministerium einen Erlass, der den Anbau von Kartoffeln auf staatlichem Land und, wo es keines gab, in den Gemeinden vorschrieb. In mehreren Bezirken weigerten sich die Bauern geschlossen, Kartoffeln anzubauen, und es kam zu Aufständen, da sich unter ihnen teils unsinnige Gerüchte verbreiteten. 

Goldfaden 

Seit Ende des 17. Jahrhunderts gab es in den Gouvernements des Urals viele altgläubige Gemeinden und Siedlungen. Vor allem die Altgläubigen verbreiteten in der Bauernschaft Gerüchte über vermeintliche Regierungsintrigen. Außerdem weigerten sie sich strikt, Kartoffeln anzubauen und in ihren Speiseplan aufzunehmen. 

Aus Angst vor den Urhebern der „Kartoffelreform“ streuten Altgläubige unter den Bauern aberwitzige Gerüchte. Alle freien Bauern sollten an einen „Herrn“, den sie „Minister“ nannten, „verkauft“ werden, der diese zum Kartoffelanbau zwingen würde. Das Dokument über den Verkauf der Bauern sei eine „Verkaufs“- oder „Leibeigenen“-Urkunde, die angeblich mit einem „Goldfaden“ versehen sei, der ihre Echtheit belegen solle. Gelänge es, den Beamten diese Urkunde wegzunehmen, behielten die Bauern ihre Freiheit.  

An Ostern 1842 versammelten sich die Bauern in der Gemeinde Klewakinskoje und beschlossen, im Haus des Pfarrers nach der „Verkaufsurkunde“ zu suchen und ihn selbst im Fluss zu ertränken. Der Priester versteckte sich im Glockenturm und harrte dort über drei Tage lang aus. Die Bauern nahmen seine Familie als Geiseln. Den vom Turm hinabsteigenden Vater Jakow umwickelte sie mit einem Seil und zogen ihn so von einem Ufer zum anderen. Sie gelangten aber auch auf diesem Wege an die erhoffte Urkunde. Herbeigerufene Militärs schließlich bewahrten den Priester vor einer öffentlichen Hinrichtung. 

Warum richtete sich der Zorn des Volkes vor allem gegen den Klerus? Erstens waren es die Priester, die für das Volk den Willen der Obrigkeit verkörperten. Schließlich waren sie es, die deren Anordnungen und Erlasse verkündeten. Zweitens, so die Historiker, wurden die Revolten gegen den Klerus manchmal direkt von den Altgläubigen unterstützt. 

Im Jahr 1843 weiteten sich die Unruhen auf Teile der Provinz Orenburg aus. Tausende von Bauern strömten mit Sensen und Heugabeln bewaffnet in das Dorf Baturino südlich von Schadrinsk. Einige wenige Beamte, die von einem Dutzend Soldaten bewacht wurden, suchten in der örtlichen Kirche Zuflucht, bis ein Militärtrupp eintraf und die Aufständischen vertrieb. 

Fast überall in Transuralien wurden die Unruhen von den Truppen niedergeschlagen, und die Prozesse vor Militärgerichten entschieden. Gewöhnliche Bauern wurden in der Regel nicht verbannt, sondern zu körperlicher Züchtigung durch Auspeitschen verurteilt. Aufwiegler mussten sich einem Spießrutenlauf unterziehen (einer schwereren Strafe), wurden mit Geldstrafen belegt oder nach Sibirien oder zum Bau der Festungsanlage in Babrujsk verurteilt. Mit Beginn des Erntejahres flauten die Unruhen allmählich ab - die Aussaat musste beginnen.  

Im Jahr 1843 wurde die Verpflichtung der Kronbauern zum Kartoffelanbau abgeschafft. Stattdessen begann man, ihre Kultivierung zu belohnen. Auf diese Weise wurden bis Ende des 19. Jahrhunderts in Russland mehr als 1,5 Millionen Hektar Kartoffeln angebaut, und die Knolle hielt Einzug in die Speisepläne der Bauern, insbesondere in den landarmen Regionen. Anders hielten es da die Altgläubigen, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kartoffeln aßen.