Der Abschuss eines geheimnisvollen amerikanischen Spionageflugzeugs über der UdSSR

Geschichte
BORIS JEGOROW
Der CIA-Agent Francis Gary Powers sollte plangemäß die gesamte Sowjetunion von Zentralasien bis zur Arktis überfliegen. Und es wäre ihm fast gelungen.

„Bei Gott, es ist vorbei“, musste Powers verzweifelt gedacht haben, als am 1. Mai 1960 eine sowjetische Rakete sein Flugzeug traf. Bevor es abgefangen wurde, flog das U-2-Aufklärungsflugzeug tief in sowjetisches Hoheitsgebiet ein und erreichte das Uralgebirge und die Stadt Swerdlowsk (heute Jekaterinburg). 

Powers gehörte der Spezialeinheit „10-10“ der CIA an, die zur Tarnung den Namen "2nd Weather Reconnaissance Squadron WRS" (2. Wetteraufklärungsstaffel) trug. Seit 1956 überflogen U-2-Aufklärungsflugzeuge mit NASA-Logos regelmäßig die Sowjetunion und machten dabei Aufnahmen von industriellen und militärischen Einrichtungen. Powers war der Einzige von ihnen, der abgeschossen wurde.

Die technischen Eigenschaften der Lockheed U-2 (genannt auch „Dragon Lady“) ermöglichten es den Amerikanern, ungehindert über sowjetischem Hoheitsgebiet zu kreisen. Sobald sie eine Höhe von 20.000 Metern erreicht hatte, war sie für die sowjetische Luftabwehr unerreichbar. 

Powers startete am 1. Mai 1960 von einem Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von Peschawar in Pakistan und drang um halb sechs Uhr morgens in den Luftraum der Tadschikischen SSR ein. Der Auftrag bestand darin, das gesamte sowjetische Territorium von Süden nach Norden zu durchqueren, Norwegen zu erreichen und eine Reihe wichtiger Standorte zu filmen, darunter den Kosmodrom Baikonur und die geschlossene Stadt Tscheljabinsk-40 (heute Osersk), wo waffenfähiges Plutonium hergestellt wurde.

Die sowjetischen Radarstationen entdeckten den Eindringling sofort, schafften es aber nicht, ihn über Zentralasien abzufangen. Drei Stunden später war Powers bereits über dem Ural. 

Mit Flugzeugen vom Typ MiG-15 konnte der Amerikaner in 20 km Höhe nicht erreicht werden. Der neueste Abfangjäger Suchoi Su-9 stand jedoch auf einem der auf dem Weg der U-2 gelegenen Flugplätze. Theoretisch wäre es in der Lage gewesen, den Eindringling zu erreichen, war jedoch zu diesem Zeitpunkt unbewaffnet, und die Besatzung verfügte über keine Ausrüstung für große Höhen. Das Kommando gab den Befehl, die U-2 zu rammen, aber auch das gelang nicht.

Gegen 9 Uhr morgens starteten zwei MiG-19 auf dem Flugplatz von Kolzowo. Sie sollten den Aufklärer auf einer Höhe von 18 Kilometern abschießen. Eines der Kampfflugzeuge wurde fälschlicherweise für den Feind gehalten und durch das Feuer der Flugabwehrbrigade 57 zerstört. Der dabei ums Leben gekommene Pilot, Oberleutnant Sergej Safonow, wurde posthum mit dem Orden des Roten Banners ausgezeichnet.

Schließlich konnte der Flug des Eindringlings durch das Feuer einer S-75-Boden-Luft-Rakete beendet werden, eine militärische Neuentwicklung in der damaligen Zeit. Die Rakete traf das Flugzeug bereits in der Nähe von Swerdlowsk, es zerbrach und fiel wie ein Stein in die Tiefe. 

Abgeschossener Pilot

„Ich schaute nach oben, schaute hinaus, und alles war in oranges Licht getaucht, überall. Ich weiß nicht, ob es die Reflexion in der Kabinenhaube [des Flugzeugs] selbst war oder einfach der ganze Himmel. Und ich weiß noch, wie ich zu mir selbst sagte: „Bei Gott, es ist vorbei“, erinnert sich Powers. 

Das Flugzeug, dessen Heck und Flügel abgerissen waren, geriet in eine unkontrollierbare Drehung. Da er sich nicht aus dem Flugzeug schleudern konnte, kletterte der Pilot auf den Rumpf und öffnete den Fallschirm. 

„Als wir ihm den Helm abnahmen, sagte er etwas in einer Sprache, die wir nicht verstanden“, erinnert sich einer der Dorfbewohner, die zum Ort geeilt waren, an dem Powers gelandet war: „Wir fragten ihn, wer er sei, aber er sagte nichts. Da haben wir gemerkt, dass er ein Ausländer ist. Das beunruhigte uns. Und dann zog Tscheremissin eine Pistole mit einem langen Lauf aus einem Lederholster, den er am Gürtel trug. Mit Gesten versuchten wir von ihm zu erfahren, ob er allein ist. Er verneinte auf ebendiese Weise. Da es sich bei dem Fallschirmspringer um einen Ausländer handelte, beschlossen wir, ihn festzuhalten.“ 

Powers wurde nach Moskau gebracht. Neben der schallgedämpften Pistole führte er ein Messer, sowjetische Rubel, einen Kompass, Landkarten der UdSSR, goldene Ringe und Uhren, ein Schlauchboot, einen Sprengsatz, eine Fotoausrüstung, eine Ein-Dollar-Hohlmünze mit einer Giftnadel sowie einen Bogen aus Seide mit sich, auf den die folgenden Worte in 14 Sprachen gedruckt waren: „Ich bin Amerikaner und spreche kein Russisch. Ich brauche Essen, Unterkunft und Hilfe. Ich werde dir keinen Schaden zufügen. Ich habe keine bösen Absichten gegen dein Volk. Wenn du mir hilfst, wirst du dafür belohnt".

Spion

Der U-2-Vorfall löste sofort einen internationalen Skandal aus und störte ein geplantes Treffen zwischen Nikita Chruschtschow und Dwight Eisenhower. 

Die USA behaupteten, Powers habe lediglich meteorologische Beobachtungen für die NASA durchgeführt und sei, vom Kurs abgekommen, versehentlich in sowjetisches Gebiet geflogen. Diese Version wurde sofort von den Sowjets widerlegt, die zusammen mit dem Wrack des Flugzeugs eine komplette Spionageausrüstung vorgefunden hatten.

Während der Verhöre äußerte Powers sich knapp und sehr präzise. Er versuchte offensichtlich, seine Worte so vorsichtig wie möglich zu wählen, um nichts Unnötiges zu sagen. Der Pilot vermied mit allen Mitteln das Wort „Spion“. Während er mündlich seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit bekundete, versuchte er die Ermittlungsbehörden und das Gericht davon zu überzeugen, dass er über keinerlei wertvollen Informationen verfüge und lediglich fremde Anweisungen ausgeführt habe. 

Am 19. August 1960 verurteilte das Militärkollegium des Obersten Gerichts der Sowjetunion den amerikanischen Piloten wegen Spionage zu zehn Jahren Freiheitsentzug. Er verbrachte jedoch nicht lange in einem sowjetischen Gefängnis. Am 10. Februar 1962 wurde der Pilot auf der Glienicker Brücke bei Berlin gegen den sowjetischen Spion Rudolf Abel ausgetauscht, der sich in amerikanischer Gefangenschaft befand.