Wie Chruschtschow versuchte, jede sowjetische Familie mit einer Wohnung zu versorgen

Geschichte
SOFIA POLJAKOWA
Der massenhafte Bau von Mehrfamilienhäusern in den 1950er und 1960er Jahren sollte den Wohnungsbedarf der wachsenden städtischen Bevölkerung der UdSSR decken. Es war auch eine echte Abkehr vom sowjetischen „Kommunismus“ hin zum Individualismus.

Wenn man durch Russland reist und verschiedene Städte besucht, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt liegen, kann man identische fünfstöckige Häuser sehen. Sie wurden alle in der Zeit von Nikita Chruschtschow (Staatsführer von 1953 bis 1964) gebaut,  dem sie auch ihren Namen zu verdanken haben – Chruschtschowka. 

Manche Menschen in Russland sprechen heute abfällig über sie: Angeblich sind ihre Wohnungen winzig, die Decken niedrig, es gibt keine Aufzüge und sie sind moralisch und physisch veraltet. Es waren jedoch diese unprätentiösen Wohnhäuser, die das sowjetische Bewusstsein buchstäblich revolutionierten. In der Chruschtschowka hatte jeder das Recht auf seinen eigenen Raum und ein Stückchen Freiheit. 

Stalin und die Gemeinschaftswohnungen

Das Wohnungsproblem in der Sowjetunion war eines der akutesten, bevor der Massenbau der Chruschtschowkas begann: Die fortschreitende Industrialisierung führte zu einem immer stärkeren Zustrom von Menschen vom Land in die Städte. Die Aufgabe, provisorische Wohnheim-Baracken ohne Komfort in großer Zahl zu errichten, war während der Herrschaft Josef Stalins relativ erfolgreich gelöst worden. Zwar gab es auch in der Hauptstadt einzelne Mietskasernen, doch waren sie zu diesem Zeitpunkt kein Massenphänomen mehr. Der Großteil der Bevölkerung zog in die zwischen 1933 und 1961 erbauten Stalinkas. Die stalinistischen Häuser wurden nicht nur für die Elite der sowjetischen Gesellschaft, sondern auch für die einfachen Bürger gebaut. 

Das Problem war jedoch, dass es für normale Menschen praktisch unmöglich war, dort eine Wohnung zu bekommen. Stalinkas (mit fünf bis elf Stockwerken) wurden in der Regel als Gemeinschaftswohnungen besiedelt – mehrere Familien lebten in einer Wohnung, meist  eine Familie in einem Zimmer. Küche, Toilette und Flure wurden gemeinsam genutzt, was zu Problemen für die Bewohner führte: Ehemalige Bewohner von Gemeinschaftswohnungen erinnern sich an Warteschlangen vor der Toilette, stark eingeschränkte Duschzeiten, ständig laute oder übermäßig strenge Nachbarn, unangenehme Gerüche aus der Küche und einen Mangel an persönlichem Freiraum. Manchmal führten Konflikte zu körperlichen Auseinandersetzungen oder zum Versuch, Nachbarn heimlich zu vertreiben – durch Denunziationen, Beschwerden und Intrigen, die zur Verhaftung der Person führen konnten, deren Zimmer dann an einen Nachbarn vergeben wurde. 

Nach Stalins Tod im Jahr 1953 beschlossen die Behörden, die Wohnungsnot innerhalb von 20 Jahren zu beenden. Um diesen ehrgeizigen Plan zu verwirklichen, wurden Entwürfe für preiswert zu bauende Häuser – die Chruschtschowkas – entwickelt. Das Wichtigste dabei war die Ergonomie – die sechs Quadratmeter große Küche wurde auf der Grundlage einer Analyse der Bewegungen der Hausfrau bei der Zubereitung der Gerichte entworfen, die ein bis drei Zimmer (je nach Anzahl der Familienmitglieder) hatten eine Gesamtfläche von 16 bis 58 m², das Bad war (anders als  sonst in sowjetischen Wohnungen) in der Regel mit der Toilette kombiniert. Nach den Stalinkas mag dies nicht viel erscheinen, aber man hatte die Wohnung ganz für sich.

Die Chruschtschowkas waren ein enormer Durchbruch bei der Vergrößerung des Wohnungsbestands des Landes: Die durchschnittliche Bauzeit pro Haus betrug zwölf Tage, so dass Millionen von Menschen in kurzer Zeit eine eigene Wohnung beziehen konnten. Die Schnelligkeit des Baus bedeutete nicht immer eine schlechte Qualität – Chruschtschowkas aus Ziegeln und Blocksteinen sind auch heutzutage noch bewohnbar und können es in puncto Haltbarkeit sogar mit einigen Neubauten aufnehmen. Die Plattenbauten, die in der Chruschtschow-Ära errichtet wurden, begannen dagegen nach 30 Jahren zu zerfallen. Es ist erwähnenswert, dass die Wohnungen in der UdSSR kostenlos vergeben und ihre Größe nach der Anzahl der Familienmitglieder berechnet wurde – man musste nur warten, bis man an der Reihe war. 

Die Hinwendung Chruschtschows zu Persönlichkeit und Individualismus

Die Grundrisse der Chruschtschowkas inspirieren das Möbeldesign bis heute: Die geringe Größe der Wohnungen zwang die sowjetischen Möbelkonstrukteure zum Minimalismus und so entstanden das Sessel-Bett, das Tisch-Bett und der Schrank Helga. Was früher als „Omas Möbel“ galt, wird heute auf Flohmärkten rege nachgefragt und restauriert, um die Ästhetik der sechziger Jahre wiederherzustellen.

Einst wurde der Einzug in eine Chruschtschowka einfach nur als Verbesserung der Lebensqualität angesehen, als eine Möglichkeit, den Unannehmlichkeiten des Gemeinschaftslebens zu entkommen, doch im Nachhinein wird deutlich, dass die Besitzer mit dem Einzug in eine separate Wohnung auch den Unannehmlichkeiten des kollektiven Bewusstseins entkamen. Die frühere Lebensweise hemmte die Privatsphäre und Chruschtschow gelang es, dies zu ändern: Die neuen Wohnungen weckten den Individualisten im Sowjetmenschen – er konnte sich einrichten, wie er wollte, tun, was er wollte, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. 

Mit der individuellen Unterbringung kam das Phänomen des kwartirniks auf, geheimer Hauskonzerte, die aufgrund des Verbots öffentlicher Auftritte für viele Bands und Interpreten bei einigen Leuten zu Hause stattfanden. Musiker, die später zu Stars wurden, wie Wladimir Wyssozki, traten in den 1960er Jahren häufig bei solchen Hauskonzerten auf. Der individuelle Wohnraum, der den Bürgern vom Staat zur Verfügung gestellt wurde, bot somit eine Plattform für die Gegenkultur. Interessanterweise fiel der Bau der Chruschtschowkas teilweise in die Zeit, die als Tauwetter-Periode bekannt wurde: Die Zensur wurde gelockert, der Gulag abgeschafft und die UdSSR hob den Eisernen Vorhang ein Stück. Das Land befand sich in einem großen Umbruch, und mit ihm veränderte sich auch das Bewusstsein seiner Bewohner. 

Chruschtschowkas gibt es nicht nur in allen postsowjetischen Ländern, sondern auch in Deutschland und Kuba. Einige Häuser mussten abgerissen werden, aber viele von ihnen werden von ihren Bewohnern geliebt – sie wollen oft nicht ausziehen, auch wenn ihnen eine neue Wohnung angeboten wird.