Warum war der Vegetarismus im zaristischen Russland so beliebt?

Russia Beyond (Photo: Public domain)
Leo Tolstoi und Ilja Repin waren Vegetarier, die viele Anhänger fanden. Die Tatsache, dass wir so gut wie nichts darüber wissen, ist ein Verdienst der Sowjetzeit, als der Vegetarismus verboten war.

„Es war Essenszeit und wir betraten das Esszimmer. Auf dem Tisch meiner Tante lag ein großes Küchenmesser und ein lebendes Huhn, das an ein Stuhlbein gebunden war. Der arme Vogel zappelte und zog den Stuhl mit sich. ,Siehst Du?ʻ, sagte Vater zu unserem Gast. ,Da wir wissen, dass du gerne Lebendiges isst, haben wir ein Huhn für dich vorbereitet. Keiner von uns kann es töten, deshalb haben wir dieses tödliche Werkzeug für dich besorgt. Mache es selbst!ʻ ,Wieder einer deiner Scherze!ʻ, rief Tante Tanja lachend aus. ,Tanja, Mascha, bindet den armen Vogel sofort los und gebt ihm seine Freiheit zurück!ʻ 

Wir beeilten uns, Tantchens Wunsch zu erfüllen. Nachdem wir das Huhn befreit hatten, kamen gekochte Nudeln, Gemüse und Obst auf den Tisch. Die Tante hat alles mit großem Appetit gegessen.“

Diese Szene wird von Tatjana, der Tochter Leo Tolstois, beschrieben. Sie selbst, ihre Schwester Mascha und ihr Vater waren überzeugte Vegetarier. Doch Sofia Andrejewna, die Frau des Schriftstellers, beschwerte sich über den Vegetarismus des Grafen, der „die Komplikation einer doppelten Zubereitung der Mahlzeiten, zusätzliche Kosten und unnötige Arbeit für die Leute“ verursachte. Außerdem, so Sofia, ernähre ihn die vegetarische Kost nicht ausreichend“. Aber Tolstoi blieb hartnäckig und aß kein Fleisch. In Russland war er jedoch bei weitem nicht der einzige Vegetarier.

„Es ist einfach, die lokale Bevölkerung dazu zu bringen, sich vegetarisch zu ernähren“

Vegetarische Kantine am Nikitsky-Boulevard, 1900, Moskau.

Die Ernährungswissenschaftlerin Jenny Schultz, die 1896 die erste vegetarische Kantine Ungarns gegründet hatte, eröffnete 1903 eine ähnliche Kantine in Moskau. Nach einer Untersuchung der russischen Einstellung zum Vegetarismus schrieb Schulz, die sich speziell mit der „vegetarischen Gastronomie“ in der Schweiz befasste: „Zahlreiche, meist lange Fastenzeiten werden von reichen und armen Menschen, in der Stadt und auf dem Land, mit großer Gewissenhaftigkeit eingehalten. Das ist der Grund, warum die einheimische Bevölkerung so leicht vom Vegetarismus zu überzeugen ist.“

In Russland wird dem Fasten schon seit dem Altertum eine besondere Bedeutung beigemessen. Peter Brang, der den russischen Vegetarismus erforscht, schreibt: „Für russische Mönche ist, anders als für die westlichen (mit Ausnahme der Trappisten und Kartäuser), das ordnungsgemäße Fasten – der Verzicht auf den Verzehr von Fleisch – eine Grundregel. Gewissenhafte Mönche fasteten das ganze Jahr über und erlaubten sich nur gelegentlich, Fisch zu essen. Für die einfachen Gläubigen ergaben die Fastenzeit – die Große Fastenzeit, das Petrusfasten, das Fasten zu Mariä Himmelfahrt und das Weihnachtsfasten zusammen mit den wöchentlichen Fastentagen (mittwochs und freitags) – insgesamt etwa 220 Fastentage im Jahr.“

Als der Vegetarismus in Russland aufkam, war der „geistige“ Boden dafür also bereits vorbereitet. In der Nestorchronik aus dem Jahr 1074 heißt es: „Die Fastenzeit reinigt den Geist des Menschen“.

Vegetarische Kantine in der Gazetny-Gasse, Moskau.

Die Kirche hingegen verurteilte den Vegetarismus. Denn es gab in Russland christliche Sekten (zum Beispiel die „Geißler“ und die „Verschnittenen“), die völlig auf Fleisch verzichteten. Und da die Kirche aktiv gegen diese Sekten vorging, bekämpfte sie auch den Vegetarismus. Allein die Bereitschaft, auf Fleisch zu verzichten, erweckte bei den Kirchenvertretern den Verdacht, dass dahinter sektiererische Bestrebungen stecken könnten.

1913 reichte Nikolai Lapin, ein Bauer aus der Nähe von Saratow, seinen Artikel „Warum ich Vegetarier wurde“ bei der Zeitschrift „Vegetarische Rundschau“ ein. Lapin verzichtete mit 18 Jahren auf Fleisch, weil er seit seiner Kindheit nicht zusehen konnte, wie Tiere geschlachtet werden. Schon bald fragten sich seine Mitbewohner, ob er die harte Arbeit auf dem Hof verrichten könne, und da das für Lapin kein Problem war, sagten sie, er sei vom Teufel verführt worden. Die vegetarische Ernährung warf also auch beim einfachen Volk Fragen auf.

Tolstoi und die „tötungsfreie Diät“

Leo Tolstoi und Ilja Repin in Jasnaja Poljana, Anwesen der Familie Tolstoi.

Der Schriftsteller selbst nannte als Beginn seiner Fleischverweigerung die Jahre 1883/84, als er Wladimir Tschertkow traf, der bereits Vegetarier war, und er seine spirituelle Suche begann. Bereits 1885 geriet Tolstoi wegen seiner Weigerung, Fleisch zu essen, in Konflikt mit seiner Frau. 1892 schrieb er den Essay „Der erste Schritt“, ein leidenschaftliches Manifest des Vegetarismus. „Wie ist es möglich, die Kuh, die dich und deine Kinder zehn Jahre lang mit Milch versorgt hat, zu töten? Ein Schaf, das dich mit seiner warmen Wolle wärmte? Es einfach töten? Töten und es aufessen?“, fragte Tolstoi.

„Der erste Schritt“ von Leo Tolstoi

„Der erste Schritt“ stieß auf große Resonanz – viele Intellektuelle wandten sich dem Vegetarismus zu. Neben Tolstoi gab es noch andere berühmte Vegetarier: den Philosophen Wladimir Solowjow, der schrieb: „Wenn wir schon nicht fähig sind, der toten Natur Leben einzuhauchen, so sollten wir doch wenigstens die lebendige so wenig wie möglich kasteien.“ Der Künstler Nikolai Ge, der in allem den Lehren Tolstois folgte. Der Maler Ilja Repin beschrieb seinen Vegetarismus enthusiastisch: „Ich habe die Eier weggeworfen (das Fleisch habe ich bereits aufgegeben). Salate! Welch eine Freude! Was für ein Leben (mit Olivenöl!) Brühe aus Heu, aus Wurzeln, aus Kräutern – das ist ein Lebenselixier. Obst, Rotwein, Trockenfrüchte, Oliven, Pflaumen... Nüsse – das ist Energie. Ist es möglich, alle Annehmlichkeiten einer pflanzlichen Ernährung aufzuzählen?“ Im Jahr 1900 heiratete Repin Natalia Nordman, eine der berühmten russischen Propagandistinnen des Vegetarismus, die nicht nur auf Fleisch verzichtete, sondern auch keine Pelze trug, was die adlige Gesellschaft völlig schockierte.  

Wie viele vegetarische Kantinen gab es in Russland?

Leo Tolstoi und seine Frau Sofya bei einem Abendessen.

„Hier wird der Vegetarismus vor allem von der ideellen Seite her betrachtet, die hygienische Seite ist noch wenig bekannt“, so Jenny Schultz in ihrem Artikel. In der Tat konzentrierten sich die ersten russischen Vegetarier nicht auf die schädliche Auswirkung von Fleischnahrung, sondern auf den Protest gegen das Töten – daher die Bezeichnung „schlachtfreie“ Ernährung.

Vegetarismus gab es in Russland schon vor Tolstoi. Der Tolstoi-Forscher Jurij Jakubowskij schrieb, dass 1888/89 die erste vegetarische Gesellschaft „Weder Fisch noch Fleisch“ ihr 25-jähriges Bestehen in St. Petersburg feierte. Bereits in den 1860er Jahren hatten sich also Vegetarier zusammengeschlossen – allerdings noch ohne wissenschaftliche Grundlage. Diese erschien 1878, als der Rektor der St. Petersburger Universität, der Botaniker Andrej Beketow, den Artikel „Die Ernährung des Menschen in seiner Gegenwart und Zukunft“ veröffentlichte. Der Autor argumentiert, dass der Mensch von Natur aus an eine pflanzliche Ernährung angepasst sei, weist auf die hohen Kosten von Fleisch hin und erinnert daran, dass der Schlachthof „ein ekelhafter, stinkender und blutiger Ort“ sei. Aber selbst die Autorität des Rektors konnte die Öffentlichkeit nicht überzeugen – es gab mehrere spöttische Gegendarstellungen zu Beketows Artikel.

Leo Tolstoi mit seinem Freund Wladimir Tschertkow, der ihn wahrscheinlich in den Vegetarismus einführte.

Doch nach der Veröffentlichung von „Der erste Schritt“ änderte Tolstoi seine Haltung gegenüber Beketow. Sein Artikel wurde von Wladimir Tschertkows Verlag „Der Vermittler“ zweimal in einer Gesamtauflage von etwa 15.000 Exemplaren nachgedruckt. Im Jahr 1903 erschien eine von Tolstoi zusammengestellte Sammlung mit dem Titel „Schlachtlose Nahrung oder Vegetarismus. Gedanken verschiedener Autoren“, mit 250 Zitaten über den Nutzen des Vegetarismus.

Die erste private vegetarische Kantine eröffneten die Engländer Mr. und Mrs. Mood 1896 in Moskau, musste jedoch bald darauf fast wieder schließen. Im Jahr 1904 gab es bereits vier solcher Kantinen. An den Wänden hingen Porträts von Leo Tolstoi, der „Sonne des russischen Vegetarismus“. Bis 1914 gab es nach Brangs Zählung 73 vegetarische Kantinen in 37 Städten, die meisten davon in St. Petersburg (9) und jeweils 7 in Kiew und Moskau.

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Diese Gaststätten waren sehr beliebt – die Moskauer Kantine in der Gasetnyj-Gasse versorgte bis zu 1.300 Personen pro Tag. Die Statistiken der Moskauer Vegetariergesellschaft über die Besuche in den Kantinen zeigen einen Anstieg der Gästezahl von 11.000 im Jahr 1909 auf über 642.000 im Jahr 1914. Die Zeitschriften „Vegetarische Rundschau“ und „Vegetarischer Bote“ sowie der Almanach „Natürliches Leben und Vegetarismus“ wurden in den Jahren von 1909 bis 1915 herausgegeben.

In den letzten Jahren vor der Revolution wurde der Vegetarismus in Russland zu einem Massen- und Alltagsphänomen. Diese Entwicklung wurde jedoch durch die Machtübernahme der Bolschewiki unterbrochen. In den ersten Jahren nach der Revolution schenkten die sie den Vegetariern keine Beachtung und 1929 wurde die Moskauer Vegetariergesellschaft sogar verboten, einige ihrer Mitglieder wurden ins Exil geschickt. In der UdSSR, so heißt es in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie von 1951, habe der Vegetarismus „keine Anhänger“. Die vegetarische Gesellschaft in Moskau wurde erst 1989 wieder registriert.

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