Wie sich deutsche Kolonisten bei St. Petersburg ansiedelten

Russia Beyond (Public Domain)
Mit dem Größerwerden des russischen Reichs wurde das Problem, wer das Land besiedeln sollte, drängender. Im 18. Jahrhundert beschloss daher die Regierung, Ausländer aus Europa, vor allem Deutsche, ins Land zu holen. Man erwartete, dass sie nicht nur ansässig, sondern mit ihrer Erfahrung in der Landwirtschaft auch die noch nicht besiedelten Gebiete kultivieren würden.

Wie funktionierte die russische Anwerbung deutscher Kolonisten?

Den ersten Schritt unternahm Zarin Katharina II. In ihren Manifesten von 1762 und 1763 gewährte sie Ausländern die Erlaubnis, in das Russische Reich zu reisen, sich dort niederzulassen, „wo sie es wünschen“, wobei sie einen für sie passenden sozialen Stand wählen konnten. Den Zuwanderern wurden verschiedenste Unterstützungen zugesichert: langfristige Steuer- und Abgabenbefreiung, Unterstützung bei der Gründung eines eigenen Betriebs, vorübergehend kostenloser Wohnraum, zinslose Darlehen für Arbeitsgeräte, Bauarbeiten usw. Zu den Einreisenden zählten auch Bauern aus Westeuropa, unter anderem aus den deutschen Fürstentümern, die mit politischer Zersplitterung und Kriegen die einheimische Bevölkerung dazu bewegten, sich auf die Suche nach einem besseren Leben zu machen. Manche ließen sich von speziellen „Anwerbern“, die von russischen Diplomaten angeheuert wurden, mit Geld locken. 

Erste Seite des Manifests von Katharina II., das die Ansiedlung von Ausländern in Russland erlaubt. 4. Dezember 1672

Im ersten Jahrzehnt kamen mehr als 130.000 Einwanderer ins Land. Ihre erste Station nach der Einreise war die Gegend um St. Petersburg, die Hauptstadt des Russischen Reichs, von wo aus sie verschiedene Regionen ansteuerten - das Wolgagebiet, Livland, Woronesch und Tschernigow. Für einige endete die Reise in der Nähe der Hauptstadt - zwischen 1765 und 1767 wurden sechs „alte deutsche Kolonien“ gegründet: Luzk, Porchow, Frankfurt, Nowaja Saratowka, Srednjaja Rogatka und Ischora. Einige weitere Siedlungen (z. B. Strelna) entstanden unter Alexander I., auch während der napoleonischen Kriege in Europa. Im Jahr 1819 wurde die Ausstellung von russischen Pässen durch die Botschaften eingestellt, und danach entstanden neue Kolonien nur noch im Zuge der wachsenden Bevölkerung der bereits in Russland siedelnden Deutschen.

Was taten die Kolonisten? 

Deutsche Kolonisten aus den Außenbezirken von St. Petersburg.

Eine wichtige Aufgabe der St. Petersburger Kolonien bestand darin, für die Ernährung der schnell wachsenden Hauptstadt zu sorgen, weshalb die deutschen Siedler in erster Linie Landwirtschaft betrieben. Am Anfang hatten sie jedoch Schwierigkeiten, auch nur den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Kolonisten beschwerten sich bei den Behörden über ungünstige Bedingungen und schlechte Böden, und die Inspektoren schimpften über den Zustand der Siedlungen und warfen ihren Bewohnern Faulheit und mangelnden Fleiß vor. So schrieb einer der Beamten: „Die Deutschen leben größtenteils in Luxus, sitzen bei Kaffee und Tee herum und treffen sich zum Wein- und Biertrinken“, und bezeichnete dies als Verschwendung öffentlicher Gelder.

Deutsche Kolonisten auf dem Markt in St. Petersburg

Allmählich entspannte sich die Lage jedoch, und Ende des 18. Jahrhunderts bezeichneten die Inspektoren die Siedlung Srednjaja Rogatka bereits als „sehr wohlhabend, äußerten sich voller Anerkennung über den Erfolg der Kolonisten und ihre „Kunst der landwirtschaftlichen Betriebsführung und schlugen sogar vor, russische Bauern in der Landwirtschaft auszubilden - aber die Schankwirtschaften wurde immer noch gescholten, man bestand auf ihrer Beseitigung und beanstandete „Trunksucht und Ausschweifung“.

Deutsche Kolonie Strelna

Die Deutschen verkauften Milch, Sahne und Butter für die Hauptstadt, hielten Rinder und Pferde und bauten Getreide und Kartoffeln an. Auf den Kartoffelanbau waren die Kolonisten besonders stolz und widmeten ihm sogar einen Feiertag – den sogenannten „Otkop“, während Nowaja Saratowka wegen seiner besonderen Liebe zu diesem Gemüse scherzhaft „Kartoffelburg“ genannt wurde. Die Einwohner von Luzk, Porchow und Frankfurt arbeiteten auch in der nahe gelegenen Jamburger Tuchfabrik und verarbeiteten Wolle.

Wie lebte es sich in den Kolonien?

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in Russland eine mehrbändige Militärstatistische Umschau veröffentlicht, die eine detaillierte Beschreibung der Regionen des Landes nach deren Geografie, Wirtschaft und Bevölkerung umfasste. Demnach gab es 1851 bereits 13 deutsche Kolonien mit mehr als 3,5 Tausend Einwohnern in der Nähe der Hauptstadt. „Die Kolonisten brachten ihren Glauben, ihre Sprache, ihre Sitten und Gebräuche mit und behielten teilweise sogar ihre Tracht bei. Sie zeichnen sich durch ihre Geschäftigkeit, ihren Fleiß und ihre Kenntnisse in der Landwirtschaft aus und leben größtenteils recht wohlhabend. Sie sind unserem einfachen Volk und sogar dem Kleinbürgertum weit überlegen, was Auffassungsvermögen und Bildung angeht, heißt es in der Umschau.

Luzk, Anfang des 20. Jahrhunderts

Tatsächlich gab es in den großen Kolonien lutherische und katholische Kirchen mit Schulen, in denen Deutsch und Russisch unterrichtet wurde. Auch die externe Berichterstattung erfolgte in beiden Sprachen, während für die interne die in den Familien gesprochene deutsche Sprache ausreichte.

Bahnhof in der deutsche Kolonie Porchow, Ende des XIX. - Anfang des XX. Jahrhunderts

Die Kolonisten genossen eine relative Autonomie in der Verwaltung der Siedlungen. Nach außen unterstanden sie der Aufsicht von Inspektoren, während der örtliche Leiter ein gewählter Vorsteher war. Das Land befand sich in öffentlichem Besitz, aber es wurde den Familien überlassen und vererbt - allerdings nur an die jüngsten Söhne. Die Älteren gingen in die Städte zur Ausbildung oder zogen in andere Kolonien. Es gab öffentliches Mittel für allgemeine Ausgaben, die durch Abgaben von Familien, Bußgelder und Passgebühren aufgestockt wurden.

Lutherische Kirche in Luzk

Neben der Landwirtschaft vermieteten die Kolonisten auch Zimmer oder Häuser. Im Dorf Martyschkino wurden die Sommerhäuser von den Siedlern oft Deutschen aus St. Petersburg überlassen. Diese gründeten dort sogar einen Turnverein, der Übungen, Tänze und Wanderungen veranstaltete. 

Viehbestand im Haushalt einer Kolonisten-Familie, Wesjolyj-Siedlung, 1920.

Was ist aus den Kolonien geworden? 

Das zwanzigste Jahrhundert brachte für die Kolonien eine Zeit des Umbruchs. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurden die deutschen Kolonisten stark eingeschränkt und die deutsche Bevölkerung des gesamten Landes, einschließlich der Metropolregion, zurückgedrängt. Unter sowjetischer Herrschaft entstanden anstelle der Kolonien Kolchosen, gefolgt von Repressionen und dem Zweiten Weltkrieg. 

Eine Werft in der Kolonie Ischora (Kolpino)

Ende der 1990er Jahre versuchten die russischen und deutschen Regierungen, die Kolonie Strelna durch die Gründung der Siedlung Neudorf wiederzubeleben. Geplant war, mehr als 150 speziell ausgewählte Familien dort anzusiedeln und das Dorf mit einer Infrastruktur und kleinen Industrien wie Näherei und Schreinerei auszustatten.

Heuernte in der Kolonie Oranienbaum. 28. Juli 1930

Mit dem Regierungswechsel in Deutschland und dem darauffolgenden Verlust des Interesses der russischen Seite wurde das Projekt jedoch eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Menschen bereits in das Hüttendorf gezogen. Jetzt versuchen lokale Akteure, das Projekt in die eigene Hand zu nehmen, und machen sich für ein Freizeitzentrum in Neudorf stark, in dem sich ein deutscher Sprachkreis, eine Folkloregruppe und andere Vereine treffen könnten. So könnte es gelingen, den deutschen Charakter des Dorfes zu erhalten.

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