Was ist so geheimnisvoll an diesem Attentat auf dem Roten Platz im Jahr 1942?

Geschichte
NIKOLAJ SCHEWTSCHENKO
Alles deutete auf eine Verschwörung hin, aber die Ermittlungen gingen in eine andere Richtung.

Als am 6. November 1942 eine Regierungskolonne auf den Roten Platz einfuhr, eröffnete ein Mann in Militäruniform das Feuer und zielte auf den hochrangigen Passagier im Inneren einer Limousine. Jahrelang gab der Fall den Ermittlern Rätsel auf: Handelte es sich um ein Spionagekomplott der Nazis, eine konterrevolutionäre Verschwörung oder einen Einzeltäter?

Ein geheimnisvoller Wächter

Es war der 6. November 1942 und die sowjetische Polizei, der NKWD und das Militär waren in höchster Alarmbereitschaft, denn auf dem Roten Platz trafen bereits hochrangige Gäste ein, um den 25. Jahrestag der bolschewistischen Revolution zu feiern.

Um die Mittagszeit trat der Obergefreite Sawelij Dmitrijew seinen Dienst in der Garage des Regiments an. Mit einem Gewehr bewaffnet, verließ er seinen Posten und begab sich zum Roten Platz. Auf dem Platz angekommen, stieg er die Stufen zur so genannten Richtstätte hinauf, einem kreisförmigen Bau aus weißem Stein, der auf einem Sockel auf dem Roten Platz in der Nähe der Basilius-Kathedrale errichtet wurde und auch als Zarenplatz bekannt ist.

Er sicherte die Tore mit einem Draht und sah sich um. Der Platz war ein perfekter Ort für eine bewaffnete Person, die zu töten gedachte.

Der geheimnisvolle Wächter, der an einem höchst ungewöhnlichen Ort Wache hielt, weckte den Verdacht der sowjetischen Miliz, die auf dem Roten Platz patrouillierte. Dmitrijew fand jedoch einen Weg, sie zu täuschen, indem er eindeutige Antworten gab, die sie in Sicherheit wiegte.

„Militärpatrouille. Ich wurde geschickt, um die Sicherheit des Roten Platzes am Vorabend der festlichen Novemberparade zu verstärken“, antwortete der geheimnisvolle Wächter und nahm seinen Posten wieder ein. Nachdem einige Autos mit Prominenten den mysteriösen Wächter unbehelligt passiert hatten, verloren die anderen Sicherheitskräfte rund um den Roten Platz das Interesse an dem Mann mit dem Gewehr.

Ein Zwischenfall um 14.55 Uhr

Ungefähr um 14.55 Uhr erschien eine Autokolonne von Regierungsfahrzeugen aus Richtung Wassiljewskij Spusk in der Nähe der Basilius-Kathedrale. In den folgenden Augenblicken kam es zu einem kleinen Zwischenfall. Doch im Nachhinein sollte er den Ermittlern noch jahrelang Rätsel aufgeben.

Wie aus dem Nichts tauchte eine Heufuhre auf und kreuzte die Wege eines Regierungsfahrzeugs, in dem der sowjetische Kommissar für Außenhandel Anastas Mikojan saß. Der Fahrer des Fuhrwerks schien die Kontrolle über das Pferd verloren zu haben und Mikojans Fahrer musste das Lenkrad nach rechts reißen, um einen Zusammenstoß mit dem Fuhrwerk zu vermeiden. Dabei näherte er sich der Richtstätte und bremste ab.

In diesem Moment hob Dmitrijew sein Gewehr und feuerte drei Schüsse auf den Wagen ab.

Verdächtige Zufälle

Als der Fahrer des Wagens merkte, dass er angegriffen worden war, beschleunigte er, NKWD-Beamte sprangen aus dem Begleitfahrzeug und es kam zu einem Feuergefecht.

Der Schütze stellte sich den Agenten entgegen, wurde aber schließlich durch eine Granatenexplosion betäubt und ergab sich.

In Anbetracht der Tatsache, dass Josef Stalin ein Opfer des Schützen hätte sein können, machten die Ermittler sich mit großem Eifer an die Ermittlung.

Ein Komplott der Nazis, um das Oberhaupt des sowjetischen Staates während des Krieges auszulöschen oder ein konterrevolutionärer Anschlag, um Stalin zu töten – das schienen die naheliegendsten Theorien zu sein. Anders ließen sich all die Zufälle, die zu dem Attentat führten nicht in eine plausible Theorie vereinigen. Wie kam die Heufuhre in die Nähe des Roten Platzes? Warum bemerkte das Sicherheitspersonal den Fremden nicht, der sich stundenlang auf dem erhöhten Richtplatz aufhielt? Diese Fragen gaben den Ermittlern jahrelang Rätsel auf.

Geheimer Prozess

Zunächst gab Dmitrijew nicht allzu viel preis. Er gestand zwar, dass er den Mord an Stalin geplant hatte, aber das war alles, was die Ermittler von dem Verhafteten erfuhren.

Sie verhörten den Mann intensiv und lange Zeit. Der als Verschlusssache eingestufte Fall hinterließ jedoch noch einige wichtige Lücken.

So ist beispielsweise heute noch unklar, ob gegen den Kutscher ermittelt wurde.

Und was noch wichtiger ist: Es ist schleierhaft, ob Dmitrijew geistig gesund war. Obwohl eine Sonderkommission zu dem Schluss kam, dass der Angreifer nicht an einer Geisteskrankheit litt, gab es Hinweise, die nahelegen, dass Dmitrijew akustische Halluzinationen erlebte und psychisch instabil war.

Schließlich schlossen die Ermittler eine geheime Verschwörung aus und kamen zu einer einfachen Schlussfolgerung: Es handelte sich um das Attentat eines Einzeltäters. Es dauerte jedoch weitere sechs Jahre, bis der Fall an das Gericht übergeben wurde. Es ist unklar, warum sich dieser Prozess so sehr in die Länge zog. Vielleicht wurden die Ermittlungen inoffiziell fortgesetzt, um nach einer möglichen Verschwörung zu suchen.

Erst 1950 befasste sich das Gericht mit dem Fall des Attentats auf dem Roten Platz. Dmitrijew wurde für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Noch am selben Tag wurde das Urteil durch ein Erschießungskommando vollstreckt.

Der breiten Öffentlichkeit der UdSSR wurde nie etwas von der Schießerei auf dem Roten Platz bekannt. Auch von den Ermittlungen, dem Prozess und dem anschließenden Todesurteil erfuhr sie nichts.