Wie Denunziationen in der UdSSR verfasst wurden

Geschichte
BORIS JEGOROW
Zu Beginn der Sowjetzeit denunzierten sogar Kinder ihre Eltern. Viele glaubten aufrichtig, dass sie das Richtige tun würden.

„Die Partei verfügt über ein großes Heer von freiwilligen Informanten. Wir haben ein vollständiges Bild – von allen, von jedem“, behauptete der sowjetische Führer Konstantin Tschernenko. Denunziation war in der Tat eines der charakteristischsten Merkmale der sowjetischen Gesellschaft während ihrer gesamten Geschichte.

Der Staat selbst ermutigte die Menschen, Denunziationen zu verfassen, um „Volksfeinde“ zu identifizieren, die sich unter den ehrlichen Arbeitern befanden. So bedrohte das Strafgesetzbuch von 1926 eine Person mit Gefängnis, die es unterließ, „ein bekanntes, vorbereitetes oder begangenes konterrevolutionäres Verbrechen zu melden“. Gleichzeitig war es auch möglich, wegen falscher Anschuldigungen ins Gefängnis zu kommen.

In der sowjetischen Staatsrhetorik wurden die Denunziationen als „Signale“ bezeichnet. Jeder Bürger war verpflichtet, wachsam zu sein und den Strafverfolgungsbehörden jede „verdächtige Person“ in seiner Umgebung zu melden.

Viele Sowjetmenschen wollten dem Staat in seinem Kampf gegen die „Feinde der Revolution“ wirklich helfen, indem sie ihn informierten. Andere nutzten das System ausschließlich für eigennützige Zwecke.

Für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit

„Der Staatsanwalt Ostrokon im Bezirk Michajlowskij (Gebiet Saporoschje) ist ein Verbrecher, der die Familien der Roten Armee ruiniert, die Produkte der Kolchosen plündert, die Wirtschaft der Kolchosen schwächt und Beschwerdeführer unhöflich behandelt. Beschwerden werden kaum berücksichtigt... Es ist an der Zeit, diese Person zu überprüfen!“, schrieb in seiner Denunziation an den NKWD (die Geheimdienstbehörde) ein gewisser Rotarmist Sokolow.

Bei „uneigennützigen“ Denunziationen blieben die Verfasser oft anonym und unterschrieben einfach als „Parteigänger“ oder „Parteimitglied“. Manchmal waren die „Anonymen“ von einem wirklich uneigennützigen Gefühl und dem Wunsch beseelt, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Eine Beschwerde direkt an den NKWD oder „persönlich an Stalin“ zu schreiben, war besser, als sich mit einem unüberschaubaren Heer von Beamten und Bürokraten herumzuschlagen.

Einige dieser Freiwilligen waren so eifrig, dass sie es bei einer oder zwei Denunziationen nicht beließen. Es gibt einen bekannten Fall eines solchen Anti-Korruptions-Aktivisten in der Region Moskau, der über 300 „Signale“ an alle möglichen Behörden schickte. Die meisten der darin erhobenen Vorwürfe haben sich letztlich nicht bestätigt.

Um die Karriere und der Privilegien willen

Der Informant wurde nicht immer von guten Absichten geleitet. Eine Beschwerde bei einer „höheren Instanz“ konnte durch beruflichen Neid oder den Wunsch, einem Kollegen „auf die Füße zu treten“, motiviert gewesen sein.

1937 wurde Iwan Benediktow, ein junger Angestellter des Volkskommissariats (Ministeriums) für Landwirtschaft, denunziert. Einige Leute waren sehr unzufrieden mit seinem Fleiß und seiner Professionalität, die es ihm ermöglichten, die Karriereleiter schnell zu erklimmen.

Benediktow hatte Glück. Stalin brauchte wertvolle Kader und statt ihm den Prozess zu machen, wurde er mit dem Posten des Kommissars für Landwirtschaft der UdSSR betraut. Als Benediktow den Text des Denunziationsbriefes sah, war er erstaunt: „Das waren die Unterschriften von Menschen, die ich als meine engsten Freunde ansah und denen ich voll und ganz vertraute.“

Neben den gelegentlichen Verleumdern am Arbeitsplatz gab es auch „Vollzeit-Petzen“. Nina Malzewa, die für die sowjetischen Medien arbeitete, erinnerte sich: „Jede Institution hatte ihren eigenen ,Spitzel‘ des NKWD, der ,Volksfeinde‘ ausfindig machen und identifizieren sollte, um dann zu entscheiden, wie, wann und wo diese verhaftet werden sollten. In unserer Redaktion war der,Spitzel‘ Mojsejewitsch – ein dummer, arroganter, gerissener Mann, der seine Macht genoss. Der Spitzel‘ schnüffelte herum, mischte sich in alles ein, bedrohte jeden. Er hatte den bescheidenen Posten eines Quartiermeisters inne. Er hatte das Leben vieler Menschen und deren Unglück auf dem Gewissen. Aber eigentlich hatte er gar kein Gewissen.“

Familienangelegenheiten

Nicht nur bei der Arbeit, sondern auch im täglichen Leben wurde verpfiffen. Wer einen Nachbarn beschuldigte, ein Porträt von Trotzki in seinem Haus hängen zu haben oder die Kolchose zu unterwandern, konnte eine großzügige Belohnung erhalten.

Es ging sogar so weit, dass Kinder im Rahmen einer massiven Propagandakampagne Denunziationen über ihre Eltern verfassen mussten. Das berühmteste Beispiel ist die Geschichte von Pawlik Morosow. Der dreizehnjährige Junge, der seinen Vater, der sozialistisches Eigentum veruntreut hatte, anzeigte und von seinen Verwandten getötet wurde, wurde zu einem wahren Helden. Ihm wurden Denkmäler, Bücher und Gedichte gewidmet.

Dmitrij Gordijenko, ein Schüler aus der Region Rostow, prangerte seine Mitbewohner an, die die abgefallenen Ähren auf den Feldern der Kolchose eingesammelt hatten (nach dem „Drei-Ähren-Gesetz“ von 1932 konnten sie schon für den Diebstahl weniger Körner hingerichtet werden).

Durch die Bemühungen des Jungen erhielt eine der verhafteten Frauen zehn Jahre Lagerhaft, während ihre Begleiterin erschossen wurde. Für seine „Leistung“ wurde Dmitrij mit einer Uhr mit Dankesgravur, einer Pionieruniform und einem Abonnement der Zeitung Leninskije wnutschata (dt.: Lenins Enkelchen) belohnt.

Durch die Pionierin Olja Balykina landeten 16 Personen wegen „Diebstahls und Entwendung von Kolchosgütern“ auf der Anklagebank. Pronja Kolybin, der seine eigene Mutter verraten hatte, wurde für seine Denunziation in das Pionierlager Artek geschickt.

Die Denunziationen erreichten ihren Höhepunkt in der Stalin-Ära der 1930er und 1940er Jahre. Nach dem Tod des „Vaters der Nationen“ ließen sie nach, blieben aber bis zum Zusammenbruch der UdSSR ein fester Bestandteil der sowjetischen Gesellschaft. Da einige der Archive der Staatssicherheitsorgane noch immer verschlossen sind, ist die genaue Zahl der geschriebenen Denunziationen bis heute unbekannt.