Von der Wolga bis nach Sibirien: Wie deutsche Einwanderer das Weihnachtsfest feierten

Geschichte
ZHANNA NEYGEBAUER
Da es sich um einen der wichtigsten Feiertage handelt, konnten die Russlanddeutschen die mit Weihnachten verbundenen Bräuche bewahren. Aber wie und warum unterschieden sich die Weihnachtstraditionen von einer Siedlergemeinschaft zur anderen?

Auf Einladung von Kaiserin Katharina der Großen kamen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in großer Zahl Ausländer nach Russland, um sich niederzulassen und die Weiten des Reiches kulturell zu erschließen. Unter ihnen waren viele Bauern aus deutschen Fürstentümern – aus Baden, Württemberg, Hessen, Preußen, Pfalz, dem Rheinland und dem Elsass. Die Einwanderer bildeten vielfältige Kolonien auf dem gesamten russischen Staatsgebiet - vom Süden des Landes bis zum Ural und nach Sibirien. Die Deutschen, die von den Behörden bevorzugt behandelt wurden und über ein vergleichsweise hohes Maß an Autonomie verfügten, waren bestrebt, ihre Kultur, Religion, Sprache, Küche und Alltagsgewohnheiten zu bewahren. Sie pflegten auch ihre Feiertage und die damit verbundenen Bräuche.

Einer der wichtigsten Tage des Jahres war für die Kolonisten Weihnachten. Die Traditionen der deutschen Siedler waren von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Dies lag unter anderem daran, dass die Einwanderer aus den deutschen Gebieten verschiedenen christlichen Konfessionen angehörten: Es gab Katholiken, Lutheraner, Mennoniten und Evangelikale unter ihnen. Heute ist es schwierig, sich ein vollständiges Bild ihrer vielfältigen Weihnachtstraditionen zu machen: Vor der Oktoberrevolution waren nicht alle Siedlungen von Ethnographen detailliert beschrieben worden, und nach der Revolution wurde das Erforschen der russlanddeutschen Kultur durch die Turbulenzen des zwanzigsten Jahrhunderts erschwert. Dennoch ermöglichen uns Beschreibungen einiger Reisender und Erinnerungen von Menschen, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts geboren wurden, gewisse Einblicke in die Bräuche.

Das eigentliche Weihnachtsfest feierten die deutschen Siedler am 25. Dezember, die Feierlichkeiten begannen jedoch bereits einen Tag vorher, am Heiligabend, und dauerten mehrere Tage. Da es nicht üblich war, an Feiertagen zu arbeiten, wurde der Heiligabend genutzt, um Vorbereitungen zu treffen: Die Häuser wurden geputzt, spezielle Gerichte zubereitet und der Weihnachtsbaum wurde mit selbstgemachtem Schmuck und Süßigkeiten geschmückt. In der Regel handelte es sich um einen Tannenbaum, aber in Regionen, in denen es nur wenige Nadelbäume gab, konnte der festliche Schmuck auch anders aussehen. Ethnographen haben herausgefunden, dass die Menschen in der Wolgaregion einige Wochen vor dem Fest Hartriegel- und Fliederzweige in Wasser sprießen ließen und Gerste und Weizen in einen Kasten mit Erde säten, um sie ebenfalls zu schmücken.

In den meisten Regionen wurden die Kinder an Heiligabend von Christkind und Pelznickel besucht. Ihre Namen variierten möglicherweise von Siedlung zu Siedlung: Pelznickel zum Beispiel wurde in derselben Wolgaregion auch als „Weihnachtsfuchs“ und in Wolhynien als „Pelzbock“ bezeichnet. Es handelte sich um einen Mann, der mit einem pelzgefütterten Mantel oder einem Pelz bekleidet war. Er trug Ketten und verbarg sein Gesicht, in den Händen hielt er einen Stock, manchmal eine Rute und einen Eimer und bewegte sich gelegentlich auf allen Vieren durch das Haus. Pelznickel holte ungezogene Kinder unter ihren Betten hervor und erschreckte sie mit seinem strengen Auftreten, seiner lauten, tiefen Stimme und den klirrenden Ketten. Zur Bestrafung ließ er ein Kind auf einer Kette kauen, Zwiebeln oder Knoblauch essen oder andere Aufgaben erledigen.

Zusammen mit Pelznickel, vor oder nach ihm kam das Christkind. Es konnte von einem Jungen oder einem jungen Mann gespielt werden, aber häufiger wurde die Rolle von einem Mädchen oder einer Frau gespielt. Das Christkind, das ein weißes Kleid trug und sein Gesicht hinter einem Schleier verbarg, war ein gütiger Geist, konnte aber auch strafen. Wobei sich nicht nur Kinder, sondern auch vor allzu neugierige Erwachsene, die versuchten, unter den Schleier zu schauen, hüten mussten. Manchmal wurden das Christkind und Pelznickel von Helfern oder anderen verkleideten Figuren begleitet. Die Kinder versprachen dem Christkind gutes Benehmen, sprachen Gebete und Reime und erhielten dafür Geschenke und Süßigkeiten.

In der Wolgaregion wurde das Christkind manchmal mit diesen Worten begrüßt oder willkommen geheißen:

Christchen, komm,

Mach mich fromm,

Da ich dafür

In Himmel komm.

Am Heiligen Abends besuchten die Einwandererfamilien die Kirche. Es gab dort auch einen geschmückten Weihnachtsbaum, von dem die Kinder nach dem Gottesdienst kleine Leckereien und Süßigkeiten bekamen. Sie waren feierlich gekleidet: Die Frauen trugen blaue Mäntel und gewebte Wollunterröcke, Strickjacken, weiße Blusen und Schürzen mit Blumen und Perlen. Die Männer schmückten sich mit bunten Schals, Krawatten und Kettenuhren, und über den Hemden trugen sie Westen, Mäntel oder kurze Jacken, Binschak genannt. Zu Hause aß man zu Abend und verteilte Geschenke: In einigen Familien, z. B. in St. Petersburg, war es üblich, sie im Voraus nach seinen Wünschen zu „bestellen“.

Die Speisekarte variierte von Region zu Region des Reiches. Einigen Berichten zufolge servierten die Wolgadeutschen an Weihnachten kein Fleisch: Man glaubte, dies würde Wolfsangriffe auf das Vieh begünstigen, weshalb am ersten Tag des Festes eine süße Suppe (Schnitzsuppe) gekocht und am zweiten Tag Geflügel gebraten wurde. In Sibirien war die Weihnachtsgans, die nach einem speziellen Rezept zubereitet wurde, stets ein fester Bestandteil des Festessens. In den südlichen Kolonien hingegen wurde Schweinefleisch als Glücksbringer gegessen und dazu Sauerkraut serviert, das dem Haushalt im kommenden Jahr Gesundheit bringen sollte. Auch Knödel und Backwaren aller Art waren bei den Kolonisten beliebt.

Die Erwachsenen konnten bis zum Morgen feiern und Wein oder Wodka trinken. In einigen Kolonien gingen die jungen Leute von Tür zu Tür und beglückwünschten ihre Nachbarn, versammelten sich im Freien oder feierten separat in ihren eigenen Kreisen. All dies wurde von Gesang und Tanz begleitet, und einige der Tänze - der „Siebenter Sprung“, der „hüpfende Walzer“ - wurden von deutschen Vorfahren mitgebracht, während andere - wie der berühmte Kamarinskaja - mit der Zeit aus der russischen Tradition übernommen wurden. Ein beliebtes Weihnachtslied war „Oh Tannenbaum“.

Bescheidener und zurückhaltender als bei Katholiken und Lutheranern ging es bei den Evangelikalen, Baptisten und Mennoniten an Weihnachten zu. In diesen Kolonien beschränkte man sich meist auf Gebete und Geschenke, und anstelle von Pelznickel wurden die Kinder vom Weihnachtsmann besucht. Die Mennoniten versammelten sich am Heiligen Abend im Haus des Predigers, wo ein feierlicher Ritus der Fußwaschung stattfand.

Hochzeiten fanden in der Wolgaregion oft am zweiten Weihnachtsfeiertag statt, die besonders gerne in die Winterzeit gelegt wurden. Die Weihnachtswoche, die vom 25. bis 31. Dezember dauerte, war eine Zeit der Ruhe und Einkehr vor Silvester. In dieser Zeit waren die sibirischen Kolonisten besonders vorsichtig in ihrem Verhalten – sie beteten viel und vermieden unflätige Worte. Die Wolga-Bewohner nutzten diese Zeit für das sogenannte Zwiebelorakel: Sie salzten eine Zwiebel und leiteten aus ihrem Zustand das Wetter im kommenden Jahr ab.

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