5 Fakten über Georgij Tschitscherin, den ersten sowjetischen Außenminister

Geschichte
GEORGI MANAJEW
Ein Nachkomme einer alten Adelsfamilie, der Volkskommissar wurde. Auch so etwas war in der UdSSR möglich. Seine Karriere verdankte er jedoch nicht seiner Herkunft.

1. Eine „schlechte“ Biografie für einen Bolschewiken

Sein Vater stammte aus der alten Adelsfamilie Tschitscherin, die seit dem Ende des XV. Jahrhunderts bekannt ist. Seine Mutter, Baronin Meyendorf, kam in eine Familie namhafter Diplomaten im Dienste Russlands zur Welt. Die wohlhabende Familie gehörte zur adligen Elite des Reiches. Es scheint höchst unwahrscheinlich, dass ein Mann mit solcher Abstammung gegen die zaristische Autorität aufbegehren würde. Doch paradoxerweise war es seine Erziehung, die Tschitscherins Werdegang zum Kommunisten vorzeichnete.

Sein Vater wurde im fortgeschrittenen Alter zum Anhänger der evangelischen Lehre des Pietismus, die vor allem der englische Missionar Lord Redstock nach Russland gebracht hatte. Zu den wesentlichen Grundsätzen dieser Lehre zählte die Nächstenliebe. Der wahre Gläubige sollte seinen Glauben durch Werke stärken, indem er sich um die Armen kümmerte. Evangelikale engagierten sich für die Bildung der Bauern und finanzierten Schulen und Krankenhäuser. Auch Georgijs Eltern gehörten dieser Bewegung an, und seine Mutter nahm ihren Sohn oft zu evangelistischen Versammlungen mit. Die dort vermittelten Wahrheiten standen in krassem Gegensatz zur streng patriarchalischen Lebensweise im zaristischen Russland am Ende des 19. Jahrhunderts.

2. Noch unter dem Zaren ein Amt im Außenministerium

Georgijs Vater war ein hoher Beamter im Außenministerium, widmete aber die letzten Jahre seines Lebens der Wohltätigkeit nach den Idealen des Pietismus. Er starb, als Georgij zehn Jahre alt war. Dank familiärer Bindungen jedoch trat Georgij, nachdem er die Fakultät für Geschichte und Philologie der Universität St. Petersburg absolviert hatte, mit 26 Jahren in den Dienst des Auswärtigen Amts, und zwar sofort in einem relativ hohen Rang eines Sekretärs des Kollegiums.

Zu Kurzwecken reiste Tschitscherin 1904 nach Europa, wo er mit sozialistischen Ideen in Berührung kam. 1905 war er bereits Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und kehrte nicht mehr in das von der Revolution erschütterte Russland zurück. Seine finanzielle Lage ermöglichte es ihm, die russischen Sozialdemokraten finanziell zu unterstützen, was der britische Geheimdienst mit Besorgnis zur Kenntnis nahm. Im Jahr 1914 wurde er Mitglied der British Socialist Party. Im August 1917, nach dem Sturz des zaristischen Regimes, wurde Tschitscherin von den britischen Behörden verhaftet, da er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und die Verteidigungsfähigkeit Großbritanniens darstellte, das sich zu diesem Zeitpunkt im Krieg gegen Russland befand. Erst nach zwei diplomatischen Noten von Leo Trotzki, dem damaligen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der RSFSR, wurde Tschitscherin freigelassen. In St. Petersburg angekommen, wurde er sofort Trotzkis Stellvertreter und im Februar 1918 auf Initiative von Wladimir Lenin amtierender Außenminister.

3. Teilnahme an der Unterzeichnung des Vertrags von Brest

In seinem neuen Amt stand Tschitscherin sofort vor der großen Aufgabe, mit allen Mächten, gegen die das zaristische Russland im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, Frieden zu schließen. Die RSFSR, die sich gerade als souveräner Staat konstituiert hatte, befand sich damals in einem Bürgerkrieg. Die Beendigung der Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg war wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, die Souveränität des Landes zu retten.

Tschitscherin gehörte der russischen Delegation an, die am 3. März 1918 den Friedensvertrag von Brest-Litowsk unterzeichnete, in dessen Rahmen Russland seine Armee und Flotte demobilisierte und ein Viertel seines europäischen Territoriums sowie ein Drittel seiner Bevölkerung an andere Länder abtrat. Für Sowjetrussland war der Friede von Brest ein politischer Misserfolg. Seine Rede vor dem IV. Allrussischen Sowjetkongress am 14. März über die Bedingungen des Vertrags von Brest beendete Tschitscherin mit den Worten: „Wir wurden mit einer Pistole an der Stirn gezwungen, zu unterschreiben“. In der sowjetischen Presse wurde der Frieden von Brest unverblümt als „Selbstmord“ bezeichnet. Indessen verschaffte allein der Verzicht auf militärische Handlungen der Sowjetrepublik die nötige Atempause, um ihren Staat zu erhalten. Trotz aller Kritik setzte Tschitscherin seine Arbeit fort und wurde im Mai 1918 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der RSFSR.

In dieser Eigenschaft war er damit betraut, diplomatische Beziehungen zu einer Reihe von Ländern der UdSSR aufzubauen. Tschitscherins Triumph war die Konferenz von Genua im April 1922, auf der die RSFSR zum ersten Mal als souveräner Staat vertreten war.

4. Ein unautoritärer Arbeitsstil

Tschitscherin, der keine Familie hatte, lebte trotz seiner hohen Stellung, die ihn mit allen Privilegien des Volkskommissariats ausstattete, faktisch in seinem Büro. „Die Revolution hat ihm materiell nichts geschenkt. Er war einer der wenigen Revolutionäre, die alles hatten: materiellen Reichtum, Macht und eine Position in der zaristischen Hierarchie“, schrieb die amerikanische Journalistin Bessie Beatty, die den Kommissar persönlich kennenlernte.

Der Perfektionist, der alles selbst verstehen wollte, legte den Grundstein und bestimmte die Arbeitsschwerpunkte seiner Abteilung. Außerdem arbeitete er nicht nur bis spät in die Nacht, sondern bevorzugte grundsätzlich die Nachtarbeit, worüber sich seine ihm unterstellten Mitarbeiter beschwerten. Tschitscherin erinnerte sich später, dass er während des Aufbaus der sowjetischen Regierung zeitweise 18 Stunden am Tag arbeiten musste.

„Tschitscherin ist ein hervorragender Arbeiter, gewissenhaft, intelligent und kenntnisreich. Solche Menschen sollten gewürdigt werden. Dass seine Schwäche ein Mangel an „Führungsstärke“ ist, ist kein Problem. Es gibt nur sehr wenige Menschen mit gegenläufiger Schwäche auf der Welt!“, [bin nicht ganz sicher, was mit „обратная слабость“ gemeint ist – dass die Schwäche der meisten Menschen im „Zuviel“ an Führungsstreben liegt? S.H.] sagte Wladimir Lenin über Tschitscherin.

5. Ein feiner Kenner der Musik

Georgij lernte schon in jungen Jahren Klavier spielen. Auf dem Tambower Landgut des Historikers Boris Tschitscherin, seines Onkels mütterlicherseits, traf sich die Familie oft, um den zukünftigen Diplomaten spielen zu hören. Tschitscherin betrachtete seine Liebe zur Musik als einen der wichtigsten Bestandteile seines Lebens. In einem Brief an seinen Bruder schrieb er: „Ich hatte die Revolution und Mozart, die Revolution war die Gegenwart und Mozart der Vorgeschmack der Zukunft, und die kann man mir nicht wegnehmen.“ Noch bevor er 1930 als Kommissar für auswärtige Angelegenheiten zurücktrat, hatte Tschitscherin ein Buch über Mozart geschrieben.

Als Angehöriger der vorrevolutionären Intelligenz hatte er wenig Gemeinsamkeiten mit der Mehrheit der Kommissare Stalins. In Genua zum Beispiel fiel Tschitscherin den Ausländern nicht durch seine Stärke und Härte auf, er stach vielmehr durch seine enzyklopädische Bildung und die Tatsache hervor, dass er ohne Dolmetscher fließend Französisch und Englisch sprach. Anstelle von Lederschuhen und Stiefeln konnte er in usbekischer oder mongolischer Tracht auftreten, die er von östlichen Diplomaten geschenkt bekommen hatte (die berühmten Tschitscherin-Mäntel sind heute in den Museen des Moskauer Kremls ausgestellt). Wegen dieser Vorliebe wurde Tschitscherin scherzhaft als „Leiter der östlichen Fraktion“ bezeichnet. Aber auch die Mäntel dienten seiner Sache. So traf Tschitscherin beispielsweise eine Delegation aus dem Emirat Buchara in seinem Buchara-Mantel und zeigte damit seine Offenheit und seinen Willen zum Dialog.

Tschitscherin trat von seinem Amt zurück, weil er Stalins damaliger Linie, die Führung des Landes der Kommunistischen Partei zu übertragen, generell nicht mittragen konnte. „Das Primat der Partei über die Staatstätigkeit“, schrieb Tschitscherin, „bedeutet die Lähmung der Staatsmacht.

Danach lebte er zurückgezogen - im Sommer in einer Datscha, die meiste Zeit des Jahres in einer Moskauer Wohnung, wo er 1936 starb.