Wie ein Künstler ohne Arme und Beine Ikonen und Porträts der Romanows malte

Geschichte
RUSSIA BEYOND
Heute wird eine der Ikonen von Grigorij Schurawljów in der Eremitage aufbewahrt, und über 100 weitere erhalten gebliebene Ikonen sind über die ganze Welt verstreut. Wir erzählen die erstaunliche Geschichte eines Bauernsohns, der ohne Arme und Beine zur Welt kam – und ein Künstler wurde.

Es war das Jahr 1963, als der Kunsthistoriker und Restaurator Zdravko Kajmanovic die Ikone zufällig in dem serbischen Dorf Puracic entdeckte. Sie war mittelgroß und mit Ölfarben auf ein Brett gemalt. Die Missionsbrüder Kyrill und Methodius aus der Stadt Soluni blickten darauf gelassen und hielten Schriftrollen in ihren Händen.

„Eine gute Arbeit“, dachte Kajmanovic. Er glaubte, es sei das Werk eines Ikonographen mit akademischem Hintergrund. Doch dann entdeckte er die Inschrift in russischer Sprache: „Diese Ikone wurde im Gouvernement Samara, Ujesd Busuluk, Wolost (dt.: Gemeinde) Utjewka des gleichen Dorfes mit den Zähnen des Bauern Grigorij Schurawljów, arm- und beinlos, am 2. Juli des Jahres 1885 gemalt.“

Das war der Tag, an dem der Name von Grigorij Schurawljów in die Geschichte zurückkehrte. Nach einer langen Zeit des Vergessens erinnerte sich die Welt an den Bauernsohn mit verkümmerten Beinen und Armen, der scheinbar unmögliche Dinge tat.

Mit einer seltenen Krankheit geboren

Im 19. Jahrhundert war das Schicksal eines Menschen aus einer armen Bauernfamilie, insbesondere eines Menschen mit einer Behinderung, fast immer vorausbestimmt. Dies hätte auch bei Grigorij Schurawljów der Fall sein können, der 1858 in dem 1122 km von Moskau entfernten Dorf Utjewka mit einer schweren Behinderung geboren wurde: Die Arme des Kindes wuchsen nur bis zu den Ellenbogengelenken und die Beine bis zu den Knien. Für eine bäuerliche Familie, in der jeder, auch die Kinder, am Überleben beteiligt ist, war das eine schwere Last. Nach den Erinnerungen der Dorfbewohner wollte sich Grigorijs Mutter sogar mit dem Neugeborenen ertränken, doch sein Vater griff rechtzeitig ein.

Trotz seiner Krankheit war Grigorij geistig gesund und sehr begabt. Der Großvater des Jungen kümmerte sich um seine Entwicklung und trug ihn auf seinen Armen zur Schule. Dort lernte Grigorij lesen und schreiben, indem er sich einen Federkiel zwischen die Zähne klemmte.

Als sein Großvater starb, besuchte der Lehrer ihn zu Hause. Seine Klassenkameraden bewunderten ihn. „Ein lustiger Kerl, die Seele der Truppe“, so nannte man ihn im Dorf.

Da Grigorij gebildet war (was viele Dorfbewohner nicht von sich behaupten konnten), kamen die Leute oft mit der Bitte zu ihm, einen Brief oder eine Petition zu verfassen. Aber das war nicht das, was der Bauernsohn als seine Aufgabe ansah.

Er beschloss, Ikonen zu malen

Mit 22 Jahren absolvierte Grigorij als Externer das Gymnasium. Sein Bruder Athanasius nahm ihn zum Unterricht und nach dem Tod seiner Eltern wurde er zu den Händen und Füßen seines Bruders: Er fütterte ihn, wusch ihn, trug ihn zur Schule und zur Kirche. Zu dieser Zeit hatte Grigorij die Angewohnheit, lange in der Kirche zu bleiben und die Heiligenbilder zu bewundern. Die Zeitung Samaraer Gouvernementsblatt veröffentlichte die Nachricht, dass Schurawljów beschlossen hat, mit allen Mitteln zu lernen, wie man mit Ölfarben echte Bilder malt.

Sein Bruder brachte ihn in die nächstgelegene Stadt, Samara, zu dem dortigen Maler Trawkin, um Unterricht zu nehmen. Es gibt viele Legenden über diese Zeit im Leben des Künstlers. Eine Legende besagt, dass Schurawljów in die Stadt kam, um mit Auftritten auf der Straße Geld zu verdienen, da er angeblich sehr geschickt und schnell im Malen von Landschaften und Porträts war. Eine andere Legende besagt, dass Schurawljów auf dem Rückweg von den Besitzern eines Wanderzirkus gestohlen wurde, wo sie den jungen Mann eine Zeit lang als „amüsantes“ Ausstellungsstück zeigten.

Jedenfalls war Grigorij bald (einigen Quellen zufolge nur ein paar Tage später) wieder in seinem Heimatdorf, aber er kehrte mit Farben, Pinseln und einem speziellen Arbeitstisch dorthin zurück. Er begann mit dem Malen von Bildern und beschloss fünf Jahre später, mehrere Kopien der Ikonen an hochrangige Beamte in Samara zu überreichen, wie in der Samara-Presse des 19. Jahrhunderts berichtet wird. Den Beamten gefielen die Ikonen, und die Sémstwo, die Versammlung der Landstände, wurde zu seinen Stammkunden; der Künstler erhielt eine jährliche Rente von 60 Rubel (zum Vergleich: 1896 kostete ein Pferd 20 Rubel, und der durchschnittliche Monatslohn eines Fabrikarbeiters betrug 16 Rubel). Er hatte sogar seine eigenen Lehrlinge.

Er malt ein Porträt der Zarenfamilie

Nachdem er sich gut etabliert hatte, unternahm Schurawljów einen kühnen Schritt: 1884 schenkte er Zarewitsch Nikolaus über den Gouverneur der Provinz Samara (mit dem er bereits persönlich bekannt war) eine Ikone des Heiligen Nikolaus des Wundertäters. Diesem Geschenk waren folgende Worte beigefügt: „Ich bitte Euch in aller Demut, diese Ikone Eurem Allerhöchsten Herrn übermitteln zu lassen, denn ich habe weder Hände noch Füße. Ich habe diese Ikone auf Anregung des allmächtigen Gottes gemalt, der mich in das göttliche Licht gelassen hat. Und er verlieh mir die Gabe. Dann wurde die Bewegung meines Mundes offenbart, mit der ich meine Kunstfertigkeit auf Geheiß Gottes kontrolliere.“

Die Ikone wurde angenommen und der Künstler erhielt 100 Rubel.

Das nächste Mal meldete sich Grigorij Schurawljów vier Jahre später bei der Zarenfamilie – damals verunglückte ein Zug, mit dem der Zar und seine Familie von der Krim zurückkehrten. Die Romanows wurden nicht verletzt, aber sie erhielten aus dem ganzen Land Beileidsbekundungen. Beamte aus Samara bestellten bei Schurawljów eine Ikone als Geschenk für den Zaren. Daraufhin lud Alexander III. den autodidaktischen Ikonographen in seinen Palast ein. Daraufhin malte dieser ein Porträt der Zarenfamilie (das Werk ist nicht erhalten geblieben, aber Aufzeichnungen darüber befinden sich in den Archiven) und erhielt ein monatliches Gehalt von 25 Goldrubel.

Er malte Fresken in einer Kirche, in der er sieben Jahre unter der Kuppel verbrachte

Aber nicht nur Ikonen und Porträts hat der Ikonenmaler aus Utjewka geschaffen. Im Jahr 1885 wurde in seinem Heimatdorf mit dem Bau eines steinernen Gotteshauses begonnen, das Grigorij entwarf und bemalte, wobei er die äußerst komplizierte Bemalung der Kuppel mit einem Durchmesser von zehn Metern ausführte.

Er arbeitete wie Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle: Er lag in einer speziellen Wiege in großer Höhe. Alle zwei bis drei Stunden machte er eine Pause, weil seine Gesichtsmuskeln verkrampften – er konnte den Mund nur nach einer heißen Kompresse auf seinen Wangenknochen öffnen. Nach sieben Jahren dieser Arbeit hatte er Druckstellen am Hinterkopf, seine Vorderzähne waren abgebrochen und sein Sehvermögen hatte sich dramatisch verschlechtert.

Die Kirche war sein wichtigstes Werk. Er äußerte den Wunsch, nach seinem Tod auf dem dortigen Gottesacker begraben zu werden, was auch geschah, als Grigorij 1916 an Schwindsucht starb.

Das Schicksal der Kirche unter der Herrschaft der Bolschewiken war traurig – sie verwandelten sie in einen Getreidespeicher und brachten die Ikonen (darunter viele Werke von Schurawljów) in die Kolchose, um daraus Bienenstöcke zu bauen. Der Imker verschenkte die Ikonen jedoch heimlich an die Dorfbewohner und bat diese stattdessen um Bretter.

Die Kirche wurde erst 1989 wieder eröffnet, als die Einwohner begannen, die noch vorhandenen Ikonen in die Kirche zurückzubringen. Viele von ihnen sind jedoch noch über die ganze Welt verstreut. Einige sind im Diözesanmuseum für Kirchengeschichte, im kirchlichen und archäologischen Kabinett der Moskauer Theologischen Akademie und sogar in der Eremitage zu sehen. Die Fresken wurden während des Sowjetregimes nicht zerstört, sondern hinter Putz versteckt. Ihre Restaurierung ist derzeit im Gange.