Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution – dieser zur geflügelten Phrase gewordene Ausspruch ist eigentlich der Titel eines Artikels von Wladimir Lenin. Er schrieb ihn 1908 im Exil in Genf und veröffentlichte ihn in seiner eigenen Zeitung Der Proletarier.
Die Revolution von 1917, bei der die Bolschewiki an die Macht kommen sollten, lag noch fast zehn Jahre in der Zukunft, und Lenin bezog sich auf die erste Revolution von 1905-1907, aber auch auf den revolutionären Prozess als Ganzes, auf die Idee der Revolution selbst.
Warum schreibt Lenin über Tolstoi?
Tolstoi und Lenin scheinen zwei verschiedene Pole zu sein, zwischen denen eine große Kluft liegt. Der erste war ein Graf, ein Klassiker der Literatur des 19. Jahrhunderts, ein tief gläubiger Christ, der andere zwar ein Intellektueller, aber ein Atheist, ein Propagandist der Revolution, ein Verfechter des Umsturzes der Monarchie und aller alten Ordnungen, ein unerbittlicher Kämpfer. Lenin braucht die Zustimmung des alten Schriftstellers gewiss nicht, aber für seine Propagandazwecke nutzt er die Figur Tolstois, des unbestrittenen Stars der nationalen Kultur und einflussreichsten Autors, meisterhaft aus.
Der Führer des Weltproletariats schrieb diesen Artikel anlässlich des 80. Geburtstags Tolstois. Zu einer Zeit, in der seiner Meinung nach die gesamte legale russische Presse „voller Heuchelei“ war. Während alle an die Werke des Klassikers und deren künstlerische Größe und seine philosophischen Lebenslehren erinnerten, konzentrierte sich Lenin auf die politischen und sozialen Ansichten des Jubilars.
Lob und Kritik
Indem er Tolstois Größe als Schriftsteller hervorhebt, geht Lenin auf dessen Weltanschauung ein und übt gleichzeitig ausführliche Kritik an ihm.
Auf der einen Seite zeichnet er Tolstoi als Genie, das „unvergleichliche Bilder des russischen Lebens“ zeichnete, das aufrichtig gegen die „Lügen und Unwahrheiten“ der Gesellschaft protestierte, das Macht und Autokratie, die Zunahme der Kluft zwischen Reichtum und Armut kritisierte. Andererseits bezeichnet er ihn als einen „hysterischen Flegel, der sich russischer Intellektueller nennt“, einen Gutsbesitzer, der obendrein „eines der abscheulichsten Dinge der Welt predigt, nämlich Religion“.
Lenin war auch von Tolstois Hauptgrundsatz Kein Widerstand gegen das Böse durch Gewalt angewidert. Bekanntlich betrachtete Lenin den Terror als einen wichtigen und integralen Bestandteil der Revolution (einschließlich der gewaltsamen Befreiung von der zaristischen Macht). Er stellte fest, dass christliche Ideen wie das Hinhalten der anderen Wange die Revolution nur behindern, und hielt es für eine Schwäche, nicht für seine Rechte zu kämpfen.
Was widerspiegelte Tolstoi?
Lenin betrachtet jedoch all diese Widersprüche nicht als Zufall. Sie seien „vielmehr Ausdruck jener widerspruchsvollen Bedingungen, unter denen sich das russische Leben während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts abspielte.“ Es erschien ihm logisch, dass Tolstoi mit solchen Ansichten „sowohl die Arbeiterbewegung und ihre Rolle im Kampf für den Sozialismus als auch die russische Revolution absolut nicht verstehen konnte“.
Darüber hinaus sah Lenin in den Widersprüchen Tolstois die Widersprüche der Revolution selbst. Ihm war es wichtig, diese herauszustellen und sie zu beseitigen. „Tolstoi widerspiegelte den siedenden Hass, den herangereiften Drang zum Besseren, das Verlangen, sich vom Vergangenen zu befreien – und die unreife Träumerei, den Mangel an politischer Schulung, die Schlappheit und Unfähigkeit zu revolutionärem Handeln."
Für ihn repräsentiert Tolstoi nicht das Proletariat, sondern das patriarchalische russische Dorf. Und genau dort sollte nach Lenins Meinung der Protest gegen den Kapitalismus entstehen.
Und was hielt Tolstoi von der Revolution?
Tolstoi hatte einige ziemlich revolutionäre Ideen. Im Jahr 1905 schrieb er in einem Artikel mit dem Titel Die große Sünde: „Das russische Volk <...> ist nach wie vor ein Bauernvolk und möchte es auch bleiben.“ Und das größte Übel sei es, den Menschen ihr natürliches Recht auf Nutzung des Bodens zu nehmen. Der Schriftsteller forderte die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden (hierin ähnelt er Lenin) und die Übergabe des Bodens an das Volk, die Bauern.
Er schrieb, das russische Volk dürfe nicht „proletarisiert werden und die Völker Europas und Amerikas imitieren“. Tolstoi sah seinen Weg für die Russen, und sie, so versicherte er ihnen, sollten anderen Völkern den Weg zu „einem vernünftigen, freien und glücklichen Leben außerhalb der industriellen, fabrikmäßigen, kapitalistischen Gewalt und Sklaverei“ zeigen.