Stellen Sie sich vor: Sie sind sieben Jahre alt, wachen an einem frostigen, verschneiten Morgen des 31. Dezember auf, öffnen die Augen und befinden sich... in der Sowjetunion. In der Ecke des Wohnzimmers steht ein geschmückter Tannenbaum, dekoriert mit silbernem Lametta, mit Baumschmuck in Form kleiner Kosmonauten, einem roten Stern und ... Mais. Das Klopfen des Messers auf dem Schneidebrett ist in der Küche zu hören – Mama schneidet schon den ganzen Morgen die Zutaten für den „Hauptsalat“. Maja Kristalinskaja singt ihr berühmtes Und es schneit im Radio. Um sich die Zeit bis zum Abend zu vertreiben, nehmen Sie die warmen Wollsocken vom Heizkörper und machen sich auf den Weg in den Garten, wo bereits jemand den obligatorischen Schneemann baut.
1. So sah ein typischer Morgen des letzten Tages des Jahres für Kinder aus, die die unbeschwertesten Momente des Neujahrsfestes erlebten. Für die Erwachsenen begannen die Vorbereitungen für das wichtigste Fest des Jahres schon lange vor dem Morgen des 31. Dezember. Es gab Rituale, ohne die eine sowjetische Silvesternacht nicht möglich war.
2. Das erste, woran gedacht werden musste, waren die Speisen für die Neujahrstafel. Die „Jagd“ nach etwas Besonderem, etwas „Besserem“ (und unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft war es wirklich eine Jagd) begann mehrere Wochen oder sogar Monate im Voraus. Eine Dose Pastete, Ananas-Konserven oder eine Schachtel Pralinen konnten lange Zeit unberührt in der hintersten Ecke des Kühlschranks stehen. „Das ist für Silvester!“ war der Standardspruch, mit dem die Familienmitglieder lakonisch von den Leckereien bis zum Tag X abgehalten wurden.
3. In der Sowjetzeit hatten die meisten Menschen einen echten Tannenbaum zum Neujahrsfest. Ein paar Tage vor dem Fest ging man also auf einen Neujahrsbaummarkt oder suchte im Wald nach einem geeigneten Exemplar.
4. Früher schmückte die ganze Familie den Baum. Der meiste Baumschmuck wurde von Generation zu Generation weitergegeben oder selbst gefertigt. Die Herstellung wurde traditionell in der Schule im Werkunterricht beigebracht. Viele Neujahrsbaum-Dekorationen hatten ein bestimmtes Thema, je nachdem, was in der Gesellschaft der jeweiligen Zeit beliebt war: der Weltraum, die Landwirtschaft (also Baumschmuck in Form von Maiskolben, Äpfeln oder Karotten) oder Glaskugeln mit den Porträts der sowjetischen Führer.
5. Kurz vor Silvester gingen die Moskauer Kinder unbedingt auf den Neujahrsmarkt, in das Kinderkaufhaus Djetskij Mir (zu Deutsch Kinderwelt) oder das GUM-Kaufhaus auf dem Roten Platz. Selbst wenn es nichts zu kaufen gab, gingen die Leute wegen der „Neujahrsstimmung“ dorthin – diese Orte waren sehr festlich dekoriert.
6. Die Geschenke wurden lange im Voraus vorbereitet, obwohl die sowjetische Bevölkerung keine große Auswahl hatte (selbst eine Dose hausgemachter Gurken oder eine Salami war akzeptabel). Manchmal wurden die Menschen mit einer einfachen Neujahrskarte beglückt: Sowjetische Postkarten mit Bildern von niedlichen Tieren in einem verschneiten Wald waren ein Klassiker!
7. Am meisten freuten sich die Menschen auf den Neujahrs-Maskenball mit dem Djed moros und seiner Enkelin Snjegurotschka. Der wichtigste Tannenbaum in einer Stadt befand sich im Kulturhaus oder Theater und die Erwachsenen versuchten verzweifelt, Eintrittskarten für ihre Kinder zu bekommen (die angesagteste Neujahrsfeier mit dem entsprechenden Maskenball fand im Kremlpalast in Moskau statt).
8. In jedem Kindergarten und jeder Schule wurden Maskenbälle veranstaltet.
9. Die Neujahrskostüme wurden selbst genäht. Die Jungen verkleideten sich meist als Hase oder Bär, die Mädchen als Schneeflocke, Fuchs oder Eichhörnchen.
10. Alle Frauen im Haushalt waren damit beschäftigt, den Neujahrstisch am 31. Dezember vorzubereiten: In der UdSSR gab es mehrere klassische Gerichte für diesen Feiertag – Salat Olivier, Krabbenstäbchensalat, Hering unter Pelzmantel, Häppchen mit rotem Kaviar (wenn man welchen ergattern konnte) bildeten das klassische Neujahrsmenü.
11. Während die Festtafel vorbereitet wurde, sah man sich nebenbei sowjetische Neujahrskomödien im Fernsehen an – sie sorgten für die entsprechende Stimmung, obwohl jeder die Filme auswendig kannte, da sie jedes Jahr gezeigt wurden. Der populärste von ihnen war Ironie des Schicksals (1975), in dem sich Jewgenij Lukaschin nach einem wilden Saunagang in der Silvesternacht in Leningrad und nicht in seiner Heimatstadt Moskau wiederfindet.
12. Nach diesem Film übernahmen viele sowjetische Männer die Tradition, am 31. Dezember mit ihren Freunden in die Banja zu gehen und sich vor dem Jahreswechsel gründlich zu waschen.
13. Am Abend versammelte sich die ganze Familie um den Neujahrstisch. Silvester war in der Sowjetunion, wie Weihnachten im Westen – ein Familienfest. Auch der Besuch von Verwandten an diesem Tag und die Übermittlung von Neujahrswünschen waren obligatorisch.
14. Seit 1970 zeigte das sowjetische Fernsehen fünf Minuten vor Mitternacht eine Ansprache des Staatsoberhauptes an die Nation, die in jeder Familie am Feiertagstisch verfolgt wurde. Anfangs war es eher ein jährlicher Fortschrittsbericht, aber seit Michail Gorbatschow hat er die Form von Glückwünschen angenommen.
15. Dann wurde im Fernsehen die Uhr auf dem Spasskij-Turm des Kremls gezeigt, die mit zwölf Glockenschlägen die verbleibende Zeit bis Mitternacht herunter zählte. Und während das Glockenspiel ertönte, wünschte sich jeder etwas für das neue Jahr.
16. Nach dem „offiziellen Teil“ war es Zeit für den echten Spaß. Viele Familien aßen zu Abend, unterhielten sich und tanzten zur Musik von Golubój ogonjók (dt.: Das blaue Licht), der populärsten Unterhaltungssendung im sowjetischen Fernsehen, in der Prominente und Durchschnittsbürger Geschichten erzählten, über alles Mögliche plauderten und sich gegenseitig zum neuen Jahr gratulierten. Einer der ersten Gäste in der Sendung war Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltraum. Die Show wird übrigens auch heute noch aufgeführt, und zwar nur zu Silvester, als Hommage an die sowjetische Tradition.