Wie sich die UdSSR offiziell vom Sex abwandte

Kira Lisitskaya (Photo: Alexander Rodtschenko/russiainphoto.ru)
Innerhalb eines Jahrzehnts ging die Sowjetunion von der völligen Freiheit des Privatlebens zur Kontrolle der Bürger bis ins Schlafzimmer über.

In den 20er Jahren herrschte in der UdSSR die „freie Liebe“, die Verbote und Einschränkungen der vorrevolutionären Zeit hatte man hinter sich gelassen. Die sozialistische Revolution brachte auch die sexuelle mit sich. Doch keiner ihrer Vordenker ahnte, welchen Ausgang dies in den 1930er Jahren nehmen würde.

Der Staat der „freien Liebe“

Die Oktoberrevolution führte nicht nur einen Regimewechsel, sondern auch einen radikalen Wandel in Gesellschaft und Kultur, einschließlich der Geschlechterbeziehungen, herbei. Im zaristischen Russland galten außereheliche Affären, ob vorehelich oder als Ehebruch, als sündhaft und wurden in der Gesellschaft verurteilt, ebenso wie die Scheidung. Während ein solches Verhalten bei Männern zwar nicht der moralischen Norm entsprach, aber dennoch geduldet wurde, galt eine Frau nach einem entsprechenden Fehltritt als „gefallene Frau“, was sie dauerhaft aus der ehrbaren Gesellschaft ausschloss. Ehen wurden in der Kirche geschlossen, und es war schwierig und immer mit einer Beschädigung des Ansehens verbunden, sie wieder aufzulösen.

Mit der Machtübernahme durch die Bolschewiki verschwanden viele der moralischen und rechtlichen Schranken der vorrevolutionären Zeit.

Aufgrund der religionsfeindlichen Politik der Behörden verlor die Ehe ihren heiligen Charakter und wurde zu einer rein zivilen Angelegenheit. Sie konnte nun problemlos unendlich oft abgeschlossen und aufgelöst werden. Selbst außerehelicher Sex halt nicht mehr als verwerflich.

Alexandra Kollontai, 1920.

Die Bolschewiki hatten sich auf die Fahnen geschrieben,  Unterdrückung, Ungleichheit und Ausbeutung nicht nur im sozialen Leben, sondern auch in Liebesbeziehungen zu beseitigen. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sollten auf gegenseitiger Liebe und partnerschaftlicher Anerkennung beruhen: „Die Aufgabe der proletarischen Ideologie ist es nicht, den Eros aus dem sozialen Miteinander zu verbannen, sie soll nur seinen Köcher umrüsten, um die Liebe zwischen den Geschlechtern im Geiste der größten neuen psychischen Kraft - der partnerschaftlichen Solidarität - zu formen“, schrieb Alexandra Kollontai, eine der wichtigsten Ideologen der Frauenfrage in der UdSSR.

Majakowski mit Lilya und Osip Brik.

Die von der Freiheit berauschten Menschen ließen sich nicht auf komplizierte theoretische Argumente ein und empfanden den Wandel der Moral als sexuelle Revolution. Die Parteiführer selbst waren in dieser Hinsicht oft nicht unschuldig. Einige Historiker schreiben Lenin eine Affäre mit Inessa Armand, einer Kollegin von Kollontai in der Frauenfrage, zu. Letzterer werden ebenso wie anderen Persönlichkeiten der Partei zahlreiche Liebschaften nachgesagt. So zum Beispiel Nikolai Bucharin und Anatoli Lunatscharski, die später selbst der „Promiskuität“ den Kampf ansagen sollten. Berühmte Persönlichkeiten dieser Zeit schlossen sich dem Trend an: Die poetische Ikone der Revolution, Wladimir Majakowski, lebte mit den Eheleuten Lilja und Ossip Brik zusammen, Sergej Jessenin war dreimal verheiratet, ganz zu schweigen von außerehelichen Affären.

Der moralische Wandel bei der Jugend war auch statistisch belegt. Im Jahr 1922 wurden an einer Moskauer Universität Studierende über ihre sexuellen Beziehungen befragt. Der Anteil der jungen Frauen, die zum Zeitpunkt der Erhebung bereits eine sexuelle Beziehung hatten, war von 25,7 Prozent im Jahr 1914 auf 53 Prozent gestiegen. Bei den Männern hingegen war der Unterschied nicht so groß: Bei ihnen betrug der Anstieg lediglich etwa 20 Prozent ( von 67 Prozent im Jahr 1914 auf 85,5 Prozent im Jahr 1922).

Auf einem neuen Kurs

Bei Weitem nicht alle Parteiführer sprachen sich für die freie Liebe und eine neue Familienpolitik aus. Aber auch diejenigen, die sich von den neuen Freiheiten hatten verzaubern lassen, waren schnell ernüchtert. Das Verhalten der jungen Leute in den zwanziger Jahren verstärkte ihren negativen Eindruck von lockerer Moral noch. Die Revolutionärin Klara Zetkin zitiert in ihrem Buch „Erinnerungen an Lenin“ seine Meinung zu diesem Thema: „Die veränderte Haltung der jungen Menschen zu Fragen der Sexualität gibt sich natürlich einen 'grundsätzlichen' Charakter und scheint theoretisch begründet. Viele bezeichnen ihre Position als „revolutionär“ und „kommunistisch“. [...] Das alles hat jedoch nichts mit der Freiheit der Liebe zu tun, wie wir Kommunisten sie verstehen. Natürlich kennen Sie die berühmte Theorie, dass es in einer kommunistischen Gesellschaft so einfach und unbedeutend ist, sein sexuelles Begehren und das Bedürfnis nach Liebe zu befriedigen, wie ein Glas Wasser zu trinken. [...] Ihre Anhänger behaupten, diese Theorie sei marxistisch. Danke für diesen „Marxismus“, der alle Phänomene und Veränderungen im ideologischen Überbau der Gesellschaft direkt, linear und restlos allein aus der ökonomischen Basis ableitet. Das ist gar nicht so einfach. [...]

Wladimir Lenin und seine Frau Nadeschda Krupskaja.

Aber würde sich ein normaler Mensch unter gewöhnlichen Umständen auf der Straße in den Schlamm legen und aus einer Pfütze trinken? Oder gar aus einem Glas, an dessen Rand Dutzenden von Lippen hängen? Aber noch wichtiger ist die soziale Seite. Das Wassertrinken ist in der Tat eine individuelle Angelegenheit. Aber zur Liebe gehören zwei, und es entsteht ein drittes, neues Leben. Darin liegt das öffentliche Interesse, eine Pflicht gegenüber der Gesellschaft.“

In den späten 20er Jahren beginnt eine Rückkehr zu einer konservativeren Sichtweise auf die Beziehung zwischen Mann und Frau. 1926 hält Lunatscharski, Volkskommissar für Bildung, seinen Vortrag „Über die Lebensweise“, in dem er die Einstellung der Jugendlichen zum Sex kritisiert: „... die Liebe sollte keine alltägliche Erscheinung sein, kein 'Glas Wasser', sondern etwas Bedeutendes. Das ist die Art von Liebe, die Engels als kultiviert bezeichnet, wenn er in seinem Buch über Familie und Staat darüber schreibt; die Art von Liebe, bei der ein Mann sagt: Ich liebe diese Frau und keine andere, mit ihr kann ich mein Glück aufbauen, für sie werde ich die größten Opfer bringen, nur mit ihr kann ich glücklich sein. Wenn eine Frau sagt: Ich liebe diesen Mann, das ist mein Auserwählter, dann ist die Liebe nicht alltäglich, dann ist sie keine Ausschweifung.“ Im selben Jahr hielt Nikolai Bucharin, Mitglied des Zentralkomitees, eines der wichtigsten Organe der Kommunistischen Partei, eine Rede mit dem Titel „Kampf um Kader“, in der er einen Moralkodex für den Komsomol und insbesondere die Bekämpfung der „Promiskuität“ forderte.

Die sexuelle Freiheit wurde in den 1920er Jahren für den Staat gefährlich. Seit 1920 war die Abtreibung legalisiert und kostenlos möglich, was zu einem starken Anstieg der Abtreibungszahlen führte. Die Institution der Ehe und der Mutterschaft war im Verfall begriffen: Wenn eine Schwangerschaft nicht abgebrochen worden war, konnte eine Frau ihr Kind in einem der stets überfüllten Waisenhäuser abgeben. Die UdSSR kämpfte hart mit dem Problem der Kindesaussetzung: Kriege, Revolutionen und die Wirtschaftskrise führten dazu, dass bereits 1922 eine halbe Million Kinder in Waisenhäusern lebten. Andere landeten auf der Straße und wurden kriminell.

Waisenkinder der Region Samara, 1920er Jahre.

Rückkehr zur alten Moral

Die politische Führung wollte zu einer strengeren Ordnung der Gesellschaft zurückkehren und sorgte für ein System der moralischen Ächtung unliebsamen Verhaltens: Zunächst waren es hochrangiger Parteifunktionäre, die ihre Reden zur Verurteilung der Unmoral nutzten, danach beteiligten sich lokale Behörden und Selbstverwaltungen an dem konservativen gesellschaftlichen „Rollback“. Das Privatleben wurde öffentlich: Wenn Kollegen oder Vorgesetzte der Meinung waren, dass sich eine Person unangemessen verhielt, oder wenn sie von einem Konflikt in einer Familie erfuhren, wurde der Fall im Rahmen einer öffentlichen Versammlung geprüft, die am Arbeitsplatz oder in Parteiorganisationen stattfand. Die Teilnehmer solcher Besprechungen versuchten denjenigen, der vom richtigen Weg abgekommen war, zur Vernunft zu bringen, oder das Paar zu versöhnen. Anlass zur Diskussion konnte fast alles sein: Ehebruch, Streit und sogar „leichtfertiges“ Verhalten. So wurde beispielsweise ein junger Schlosser in einer Leningrader Fabrik 1935 aus dem Komsomol ausgeschlossen, weil er sich „mit zwei Frauen vergnügte“, und einer Arbeiterin legte man „exzessives Tanzen und Flirten“ zur Last, weshalb sie eine Rüge erhielt. Jedes Anzeichen von Unmoral konnte zum Ausschluss aus der Partei führen, und Parteifunktionäre, deren Leben sich vor den Augen der Öffentlichkeit abspielte, mussten besondere Vorsicht bei der Entscheidung für eine Ehe walten lassen.

Sowjetisches Plakat mit der Aufschrift:

Darüber hinaus wurde die Eintragung einer Scheidung zu einem sehr teuren Verfahren, wobei die Gebühren nach der ersten Scheidung um ein Vielfaches in die Höhe schnellten. In den Nachkriegsjahren wurde auf den letzten Seiten der Zeitungen neben den Ankündigungen neuer Theater- und Zirkusaufführungen eine eigene Rubrik über Scheidungen geführt: „Bürger Potapow Michail Petrowitsch, wohnhaft in [...], leitet ein Scheidungsverfahren gegen Bürgerin Potapowa Maria Pawlowna, wohnhaft in [...], ein. Der Fall wird vor dem Volksgericht verhandelt“.

Aleksei Pawlowitsch Solodwnikow

Auch in der Massenkultur sollten die neuen Normen des Privatlebens gefestigt werden. Filmfiguren, die ein unstetes Liebesleben führen, waren entweder negative Charaktere, wie der Verräter und Vergewaltiger Mark aus dem berühmten Film „Die Kraniche fliegen“ (Letjat schurawli), oder Menschen, die trotz ihrer Schönheit wegen ihres schlechten Charakters von niemandem geliebt werden - wie die schöne Anfissa aus dem Kultfilm „Ist sie eine Wette wert“ (Dewtschata).

Anfissa aus dem Film 'Ist sie eine Wette wert?' und Mark aus dem Film 'Die Kraniche ziehen'.

In den frühen 30er Jahren wurden kostenlose Abtreibungen abgeschafft, im Jahr 1936 gänzlich verboten, außer in Fällen schwerer Krankheit (das Verbot wurde 1955 aufgrund der hohen Zahlen illegaler Abtreibungen, die Frauen die Gesundheit und manchmal das Leben kosteten, wieder aufgehoben).

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