„Bestraftes Volk“: Wie Sowjetdeutsche im Zweiten Weltkrieg in der „Arbeitsarmee“ lebten

Deutschrussische Trudarmisten im Steinbruch in Tscheljabinsk.

Deutschrussische Trudarmisten im Steinbruch in Tscheljabinsk.

Book of Remembrance of the German Labourers of Bakalstroy-Chelyabmetallurgstroy. 1942-1946.
Der Zweite Weltkrieg war ein schwerer Schlag für die Sowjetdeutschen. Aufgrund ihrer Herkunft wurden sie Opfer umfangreicher Deportationen und Repressionen des „bestraften Volkes“, darunter Zwangsarbeit unter harten Bedingungen in der sogenannten „Arbeitsarmee“.

„Ich erinnere mich, wie die Karren mit den nackten Beinen und Armen der an Hunger und Kälte gestorbenen Arbeitssoldaten die Straße hinuntergezogen wurden“, solche düsteren Geschichten füllen die Erinnerungen der Sowjetdeutschen, die die sogenannte Trudármija (dt. Arbeitsarmee) überlebt haben. Die Arbeitsarmee war eine der Formen der Behandlung durch die sowjetischen Behörden für diejenigen, die als „bestrafte“ oder „schuldige Völker“ bezeichnet wurden. Dazu gehörten neben den Finnen, Rumänen, Ungarn und Bulgaren in erster Linie die Sowjetdeutschen. Ihnen wurde die Schuld für die Handlungen ihres historischen Heimatlandes angelastet. Wir erklären Ihnen, was eine Arbeitsarmee war und unter welchen Bedingungen die zur Arbeitsfront mobilisierten Menschen lebten.

Der Erlass über die Umsiedlung der in den Gebieten des Wolgagebietes lebenden Deutschen von 28. August 1941 in der Zeitung „Bolschewik“

Was ist eine Trudármija?

Im September 1941 wurde damit begonnen, Arbeitsarmeen zu bilden. Der Grund für ihre Entstehung war simpel: Die Deutschen, die zu Beginn des Krieges aus dem Wolgagebiet und der Krim nach Sibirien und Kasachstan deportiert worden waren, lebten unter schrecklichen Bedingungen und waren am Rande der Verzweiflung. Diese Spannung barg einerseits potenzielle Gefahren. Andererseits benötigte die Sowjetunion Arbeitskräfte, um die Industrie in Kriegszeiten in Gang zu halten. Beide Probleme ließen sich lösen, indem man Deutsche zur Zwangsarbeit in die Fabriken schickte.

Am 10. Januar 1942 verabschiedete das Staatliche Verteidigungskomitee mit dem Vermerk Streng geheim! denErlass Über das Verfahren für den Einsatz von deutschen Umsiedlern im wehrpflichtigen Alter von 17 bis 50 Jahren. Die Männer, die zu körperlicher Arbeit fähig waren, sollten in der Holzfällerei, bei der Eisenbahn und im Fabrikbau eingesetzt werden. Die Deutschen waren verpflichtet, „in brauchbarer Winterkleidung, mit Ersatzunterwäsche, Bettzeug, einem Becher, einem Löffel und einem Zehn-Tage-Vorrat an Lebensmitteln“ zu den Sammelstellen zu kommen – eine Forderung, die von den Menschen, die während der Deportationen eilig aus ihren Häusern vertrieben worden waren, kaum erfüllt werden konnte. Bei Nichterscheinen und Desertion drohte die Todesstrafe durch ein Erschießungskommando.

Es gibt die Theorie, dass es die Mobilisierten selbst waren, die begannen, die Zwangsarbeiter als Arbeitsarmee zu bezeichnen. Einige Historiker argumentieren, dass der Begriff nicht in offiziellen Dokumenten verwendet wurde, sondern von Personen, die nicht mit Gefangenen gleichgesetzt werden wollten, was die sowjetischen Behörden taten. Andere weisen darauf hin, dass der Begriff in Dokumenten auftauchte, die von lokalen Beamten – Lager- oder Baustellenleitern – verfasst wurden: Während die zentralen Behörden keine Assoziationen mit der Arbeitsarmee der 1920er Jahre wecken wollten, in der die Soldaten der Roten Armee nach dem Bürgerkrieg (1917-1922) gedient hatten, fanden untergeordnete Verwaltungsbeamte keine passendere Bezeichnung.

Wie die Arbeitssoldaten lebten

Der Historiker Nikolai Bugaj beschreibt die so genannte Arbeitsarmee als eine Kombination aus „Militärdienst, industriellen Tätigkeiten und Gulag-Regime“. Viele ehemalige „deutsche Arbeitskräfte“ erinnern sich an die schrecklichen Lebensbedingungen in den Zonen: „... wo wir landeten, war ein richtiges Konzentrationslager“, erzählte der in Charkiw geborene Michail Schmidt. „Ich gehörte zur allgemeinen Brigade, die einen Graben für das Abwassersystem im Ural-Werk ausheben sollte. Der Boden war gefroren und der Frost erreichte -35 Grad. Wir haben ein Brecheisen und einen Vorschlaghammer benutzt – das war harte Arbeit. Viele haben nicht überlebt“. Ein anderer Deutscher, der in den Ural mobilisiert wurde, Albert Heinrichs, erinnerte sich: „Unsere Wohn- und Lebensbedingungen waren die gleichen wie die von Häftlingen <...> Besonders erschreckend war es, wenn wir uns einander in der Banja sahen: Nackt sahen wir aus wie Skelette.“

Die ersten deutschrussischen Zwangsarbeiter (Trudarmisten) beim Schneeräumen im Arbeitslager „Bakalstroj“ im Gebiet Tscheljabinsk, März 1942.

Der Mangel an Nahrung und Kleidung, lange Stunden harter Arbeit in einem rauen Klima ohne die Möglichkeit, sich im Winter zu wärmen – unter diesen harten Arbeitsbedingungen war die Arbeit der Trudarméjzy höchsten Anforderungen ausgesetzt. Auch die Disziplin war streng, die Lager waren mit Stacheldraht umzäunt und wurden von bewaffneten Offizieren patrouilliert und bewacht, die den Mobilisierten oft mit offener Feindseligkeit und sogar Hass begegneten. „Im Winter kam die Brigade auf die Wache, dort musste man immer lange bei strengem Frost stehen. Ein Häftling fiel zu Boden und legte sich hin, ein Begleitposten kam auf ihn zu, trat ihn und sagte: Steh auf, du Nazischwein!', aber er war schon tot“, erinnerte sich Michail Schmidt. Allerdings gab es unter dem Personal und den Einheimischen manchmal Sympathisanten, die den Deutschen halfen, unter diesen monströsen Bedingungen zu überleben: „... die Welt ist nicht ohne gute Männer. Ein Wächter ließ uns im Sommer abends raus, wir gingen auf die Felder, suchten Rüben oder anderes Gemüse, kochten und aßen es. Im Frühjahr fanden wir gefrorene Kartoffeln“, erzählte Maria Sabot, die aus der Wolgaregion stammt.

Vertriebene Wolgadeutsche

Da der Bedarf an Arbeitskräften wuchs, wurde die Mobilisierung fortgesetzt und immer mehr Industrien stellten Arbeitssoldaten ein. Ende 1942 wurden Menschen weitere Nationen (Finnen, Rumänen, Ungarn, Bulgaren, Italiener und andere), deren historische Heimatländer auf der Seite der Nazis gekämpft hatten, an die Arbeitsfront geschickt. Es wurden alle Männer im Alter von 15 bis 55 Jahren und Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren, mit Ausnahme von schwangeren Frauen und Frauen mit Kindern unter drei Jahren, eingezogen. „Ich erinnere mich an Kinder, die hinter dem Wagen herliefen, weinten und baten: Mama, lass mich nicht allein, nimm mich mit!, aber das Militär führte die Frauen fort. Die Kinder kamen bei Verwandten unter oder wurden in Waisenhäuser geschickt“, erinnerte sich Emertiana Frank, die in einer Papierfabrik im Ural arbeitete.

Die finnischen Zwangsumsiedler in Jakutien.

Viele der Trudarméjzy empfanden das, was ihnen widerfahren war, als Ungerechtigkeit, wie der Historiker Arkadij German feststellt. Doch während die ältere Generation, die bereits die Germanophobie des zaristischen Regimes, die Schrecken des Bürgerkriegs und die Repressionen der 1930er Jahre erlebt hatte, an solche Umwälzungen gewöhnt war, war die Brutalität der Behörden für die jungen Leute ein Schock. Die mit sozialistischen Idealen aufgewachsenen Jugendlichen „konnten nicht verstehen, wie sie mit ,Faschisten‘ identifiziert werden konnten <...> Sie waren beleidigt und wollten ihre Loyalität und ihren Patriotismus durch aktive Arbeit und vorbildliches Verhalten beweisen.“

Vertriebene Wolgadeutsche in Sibirien, 1943.

„Wir arbeiteten einmütig zusammen und glaubten, dass auch wir an der Front helfen würden, und verbanden mit dem Sieg die Hoffnung, nach Hause zurückzukehren und unsere Verwandten zu sehen... Man erzählte, dass die Arbeiterinnen in der Werkstatt am Weihnachtsabend leise Weihnachtslieder sangen und Gott anflehten, diesen verdammten Krieg zu beenden und denen, die keinerlei Schuld hatten, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen", beschrieb Emertiana Frank ihre Gefühle. Viele der mobilisierten Personen leisteten jedoch Widerstand, verweigerten die Arbeit und versuchten sogar zu fliehen. Wenn sie gefasst wurden, brachte man sie zurück, stellte sie vor Gericht und verurteilte sie meist zum Tode.

Nach dem Krieg

Als der Krieg gegen Nazi-Deutschland endete, wurde die Trudármija nicht aufgelöst – dies geschah erst 1947. Einigen Quellen zufolge wurden während des Krieges über 316.000 Sowjetdeutsche zur Arbeitsfront eingezogen. Die Überlebenden konnten jedoch nicht in ihre Heimatregion zurückkehren: Sie durften nur dorthin gehen, wohin sie zu Beginn der Mobilisierung vertrieben worden waren. Am 26. November 1948 wurde der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR Über die strafrechtliche Verantwortung für die Flucht von Personen, die während des Großen Vaterländischen Krieges in entlegene Gebiete der Sowjetunion deportiert wurdenveröffentlicht. Er „band“ alle Umsiedler an die neuen Wohnorte – „für immer, ohne das Recht auf Rückkehr“. Die unerlaubte Ausreise der so genannten „Sondersiedler“ wurde als Flucht betrachtet und denjenigen, die einen Verstoß gegen das Dekret riskierten, drohte zwanzig Jahre Zwangsarbeit.

Zwangsumsiedler neben des Flusses Wytschegda in der Komi ASSR.

Die neue Bestimmung ermöglichte die Wiedervereinigung mit geliebten Menschen, einschließlich Kindern, die in der Obhut von Kolchosen zurückgelassen wurden, und behinderten Angehörigen. Nicht allen gelang dies und einige Familien blieben getrennt: „Wir haben Mütter in Solikamsk, die ihre Kinder immer noch nicht finden können. Diese landeten in Waisenhäusern, wo sie andere Namen und Nachnamen erhielten. Es kommt vor, dass Eltern ihre Kinder endlich finden und diese sie ablehnen: Du bist nicht meine Mutter!“, erzählte in den 2000er Jahren der ehemalige Arbeitssoldat Edwin Grieb. Und Emertiane Frank erinnerte sich daran nicht nur als eine Zeit der Unruhe, sondern auch der Hoffnung: „Unser Leben war wieder geprägt von der Sonderkommendatur, wir hatten Erwartungen und Sorgen über das, was vor uns lag. Aber das Leben forderte seinen Tribut, wir arbeiteten weiter, wurden sesshaft und gründeten Familien.“

Das Umsiedlungsregime für die deutschstämmigen Bürger wurde 1955, nach Josef Stalins Tod, abgeschafft, aber die Sowjetdeutschen erhielten weder ihr Eigentum noch das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren. Dies geschah auch nicht unter Nikita Chruschtschow im Jahr 1964 durch einen neuen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Dieser räumte zwar die Ungerechtigkeit der Anschuldigungen gegen die Deutschen ein, die „Ausdruck der Willkür des Stalinschen Personenkults“ gewesen seien. Da aber sowohl die Deutschen selbst als auch die Menschen, die sich an deren früheren Wohnorten angesiedelt hatten, sich bereits in den neuen Gebieten niedergelassen hatten, sollte alles so bleiben, wie es war.

Die Stadt Engels, 1970.

Die Beschränkungen wurden erst 1972 aufgehoben, als das Präsidium entschied, dass Deutsche und andere Völker, die bisher in ihrer Wahl [des Wohnorts] nicht frei waren, „wie alle Sowjetbürger das Recht haben, ihren Wohnsitz auf dem gesamten Gebiet der UdSSR zu wählen“. Doch schon damals wollten die Behörden nicht, dass die Deutschen in ihre früheren Siedlungen zurückkehrten, und unterstützten einen solchen Umzug nicht. Auch Initiativen zur Errichtung einer nationalen Autonomie – wie sie bereits in der Wolgaregion zwischen Ende der 1910er Jahre und 1941 bestanden – blieben unrealisiert.

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