Warum werden Bären in Sibirien immer noch verehrt?

Geschichte
SOFIA POLJAKOWA
Einige indigene Völker Sibiriens betrachten den Bären als ihren Vorfahren und verehren ihn in verschiedenen Ritualen, Festen und rituellen Jagden.

Die Bärenverehrung ist ein kulturelles Phänomen, das früher in Transbaikalien und in der Amur-Region weit verbreitet war. Auch heute noch kann man sie bei kleinen Völkern finden, die ihre traditionelle Lebensweise bewahrt haben.

Der Bär ist ein Vorfahre

Ewenken, Chanten, Mansen, Niwchen, Ultschen und viele andere indigene Völker leben in Sibirien. Auch heute noch glauben einige von ihnen, dass jeder ein Tier als Vorfahren besitzt – ein Tier, das den Stamm nicht nur geboren hat, sondern ihn auch sein ganzes Leben lang begleitet. Oft handelte es sich dabei um in der Region verbreitete Tiere, dank derer die Menschen in bestimmten Situationen „überlebten“. Der Bär ist einer von ihnen. Sein Kult ist mit vielen Traditionen verbunden, die immer noch in einigen kleinen Gruppen gepflegt werden.

Einige Ewenken, Ureinwohner Ostsibiriens, nennen den Bären zum Beispiel amikan (dt.: Großvater, alter Mann), amaktschi (dt.: Urgroßvater), ami (dt.: Vater) und verwenden noch andere Wörter, die mit der Familie verbunden sind. Eine der Hauptbeschäftigungen dieser Menschen ist die Jagd: Jeden Winter verlassen sie ihre Dörfer und gehen in abgelegene Gebiete der Taiga. Auch wenn der Bären heilig ist, wird er doch gejagt – vor allem wegen seines wertvollen Fetts, das heilende Eigenschaften hat. Die Ewenken glauben, dass jeder Jäger nur eine genau festgelegte Anzahl von Bären töten darf und dass er, wenn er diese Zahl überschreitet, von höheren Mächten bestraft wird und sein eigenes Leben verliert. Deshalb ist das Töten eines Tieres zu einem Ritual geworden: Der Jäger entschuldigt sich bei der Bestie und erklärt, warum er die Jagd begonnen hat. Das Fleisch wird manchmal vergraben und manchmal gegessen.

Nach der Jagd wird ein Bär auf besondere Weise beerdigt: Die Knochen und der Kopf werden in einem speziellen Balkengefüge aufbewahrt, das in der Richtung liegt, in die der Bär gelaufen ist, bevor er getötet wurde. Die Ewenken glauben, dass sie dann nicht vom Geist des getöteten Tieres heimgesucht werden. Danach wird das Ritual takamin (dt.: den Bären täuschen) abgehalten: Alle Teilnehmer der Jagd teilen eine Mahlzeit mit dem Fleisch eines erlegten Bären und wünschen dem Jäger, der den Bären erlegt hat, viel Glück, Gesundheit und eine große Rentierherde. Der Jäger ist der letzte, der mit dem Essen beginnt, und die vorsichtig herausgeschnittenen Augen des Bären werden in der Nähe seines Tschums (dt.: Zelt) aufgestellt.

Auch bei den Burjaten gab es einen Bärenkult. Wie die Ewenken betrachteten sie das Tier als „Familienmitglied“ und nannten es babagai – ein gängiges Wort für alle älteren Verwandten. Aus der burjatischen Folklore stammen die beiden am weitesten verbreiteten mythischen Versionen über den Ursprung des Bären. Die erste besagt, dass der Jäger sich freiwillig in einen Bären verwandelt hat, weil die Menschen um ihn herum neidisch und böse waren. Nach der zweiten wurde ein Mann wegen seiner Missetaten – Gier, Grausamkeit, Spott – in einen Bären verwandelt. Aufgrund der Verbindung von Schamanismus und Totemismus glauben die Burjaten, dass der Bär auch ein Schamane sei, der stärkste von allen.

Bärenschmaus

Die auffälligste Manifestation des Bärenkults ist das Bärenfest. Jede Nation hat ihre eigene Legende über dessen Herkunft. Bei den Ewenken lautet sie so: Ein junges Mädchen war im Wald in einer Bärenhöhle und hat dort den Winter verbracht. Als sie im Frühling nach Hause zurückkehrte, brachte sie ein Bärenjunges zur Welt, das sie wie einen Sohn aufzog, und nach einer Weile heiratete sie und brachte einen Jungen zur Welt. Als die Brüder erwachsen geworden waren, beschlossen sie, miteinander zu ringen, und der Mann tötete den Bären. Als dieser im Sterben lag, erklärte er seinem Bruder, wie man Bären richtig jagt und vergräbt. Die Legenden mögen sich unterscheiden, aber alle haben ein gemeinsames Motiv: Der Bär wählt einen Mann, dem er heiliges Wissen über die Jagd und den richtigen Umgang mit seinen Artgenossen vermittelt.

Bei manchen Völkern fiel das Fest mit einer erfolgreichen Bärenjagd zusammen, bei anderen fand es regelmäßig statt, im Januar oder Februar, statt. Im ersten Fall war das zentrale Ereignis eine Mahlzeit – das Fleisch eines erlegten Bären wurde in der Nacht gegessen und das Fest dauerte vom Anfang bis zum Ende des Festmahls, wobei einer der Verwandten des Jägers rohes Fleisch aß, um Bärenstärke, Weisheit und Gewohnheiten zu erlangen. Zwischen den Mahlzeiten gab es Reigentänze, Lieder und Spiele.

Das regelmäßige Fest war nicht mit der Jagd verbunden: Manchmal wurde es als Totenwache für einen verstorbenen Verwandten gefeiert, dessen Seele in den Bären übergegangen war, und manchmal war es ein zeremonielles Fest, bei dem der Stamm den Geistern dankte und sie pries. Ein Jungtier wurde im Wald gefunden und drei Jahre lang in einem Käfig aufgezogen, anfangs stillte der Besitzer es sogar wie ein Kind und nannte es Sohn. Nach drei Jahren bot der Besitzer den Hausgeistern Wein an und entschuldigte sich dafür, dass er den Bären nicht länger behalten konnte. Danach gingen er und seine Gäste zum Käfig und bewirteten das Tier – es wurde aus dem Käfig gelassen und im Haus herumgeführt, wobei seine Besitzer es mit Leckereien beschenkten und sich verbeugten, um Wohlstand ins Haus zu bringen. Der Bär wurde auf einer speziell vorbereiteten Plattform geschlachtet und gehäutet, und sein Kopf und sein Fell wurden durch den Schornstein in das Haus hinabgelassen. Nach der Zubereitung folgte das Abendessen: Gekochtes Bärenfleisch wurde mit einer Bärenkelle aus dem Kessel genommen und in einer speziellen Holzschale serviert. Die Knochen wurden nach dem Essen eingesammelt und den Besitzern mit einem Geschenk überreicht. Bevor das Fest zu Ende war, saßen die Ältesten eine ganze Nacht lang neben dem Schädel des Bären und sprachen mit ihm.