Gab es in der UdSSR Privatunternehmen?

Geschichte
RUSSIA BEYOND
Wie konnte ein Land, das privaten Handel und Eigentum verachtete, Millionen von Menschen versorgen? Stimmt es, dass es eine Privatwirtschaft als solche in der UdSSR nicht gab? Und wer steckte hinter den zahlreichen Läden, Geschäften, Ateliers und anderen kleinen Privatunternehmen? Schauen wir uns an, wie die Privatwirtschaft im Sozialismus lebte.

Händler hat es in Russland schon immer gegeben: In den Städten nannte man sie Láwotschniki (dt.: Ladenbesitzer) und kupzý (dt.: Kaufleute), in den Dörfern Korobéjnik (vom Wort korobka, dt.: Schachtel, weil mit ihren Bauchläden allerlei Kleinkram in Schachteln verkauften. Die Revolution von 1917 setzte dem privaten Handel für eine Weile ein Ende. Die Bolschewiki erklärten Unternehmer aller Couleur zu einem Überbleibsel des bürgerlichen Systems, das sie so erbittert bekämpft hatten. Aber das Verbot hielt nicht lange an.

War es möglich, in der UdSSR ein Privatunternehmen zu führen?

Der weit verbreitete Mythos, dass der private Handel unter den Kommunisten völlig verboten war, stimmt nur teilweise. Wenn wir über die gesamte Periode der sowjetischen Geschichte sprechen, stellt sich heraus, dass die Unternehmer sogar unter dem bolschewistischen Regime ein „goldenes Zeitalter“ erlebten. Das war kurz nach der Gründung des kommunistischen Systems.

Von Revolutionen und Bürgerkriegen gezeichnet, sah sich das junge Sowjetrussland mit einer Industriekrise, Hungersnöten, Arbeitslosigkeit und Kriminalität konfrontiert. Die Entscheidung, das Land aus seinem Scherbenhaufen zu befreien, wurde mit Reformen getroffen, die zusammengefasst als Neue Wirtschaftspolitik (kurz NÖP) bezeichnet wurden: Sie erlaubte nicht nur privates Unternehmertum, sondern bot auch Steuererleichterungen und -befreiungen. Die Behörden mussten ideologische Widersprüche vorübergehend beiseiteschieben, um die Wirtschaft schnell anzukurbeln, ohne die Menschen gegen sich aufzubringen.

Zum Beispiel konnte ein Landwirt jetzt das Getreide verkaufen, das nach Abgabe des Pflichtteils übrig blieb. Ein starker Anreiz, mehr zu produzieren.

Der Erlass über die vollständige Verstaatlichung der Industrie wurde ebenfalls abgeschafft: Ein Privatunternehmer konnte nun kleine Privatbetriebe besitzen, ausländisches Kapital aufnehmen, große Betriebe vom Staat pachten oder seine eigenen Anlagen an ihn vermieten. Insgesamt konnte ein Unternehmer bis zu 100 Personen beschäftigen. Anstelle von Sachleistungen wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter wieder mit echtem Geld bezahlt. Dafür stellten die Bolschewiki sogar das Bankensystem wieder her. Auch die Praxis des bargeldlosen Tauschhandels zwischen Stadt und Land unterlag den Marktbeziehungen. Die so genannten Nepmany (dt.: NÖP-Leute) waren aktiv mit dem Weiterverkauf von Agrarprodukten in den Städten und Industriegütern in den Dörfern beschäftigt.

Und viele Handwerker schlossen sich zu Artels zusammen, die viele Jahre lang der Motor der Wirtschaft waren.

Was ist ein Artel?

Ein Artel war ein Zusammenschluss von einzelnen Handwerkern, die sich durch gemeinsame Anstrengungen einen größeren Marktanteil sichern wollten. „Damals wurden Artels von Enthusiasten und Menschen gegründet, die vom Geruch des Geldes angezogen wurden. Und die neue Regierung förderte diese Privatunternehmen, da sie das Land mit Waren und Dienstleistungen versorgten und Menschen beschäftigten, die in staatlichen Organisationen nur schwer Arbeit gefunden hätten“, erzählt Alexander Chrisanow, der sich mit der Geschichte der sowjetischen Industrie befasst.

Die Vermögenswerte der Artels wurden als Gemeinschaftseigentum angelegt. „Wenn zum Beispiel Schreiner ihr Handwerk errichteten, brachte jeder seine eigene Säge und seinen Hammer mit. Wenn komplexe Geräte benötigt wurden, wurden sie mit Bankkrediten gekauft. Das verdiente Geld wurde auf einer Hauptversammlung verteilt; es gab keine Obergrenze für die Einnahmen“, erklärt Chrisanow.

Das Ende für den privaten Sektor kam am 11. Oktober 1931 mit dem Dekret, das den privaten Handel verbot. Dieser Erlass galt jedoch nicht für die Handwerke.

Wer kontrollierte die Privatunternehmen in der UdSSR?

Ende der 1920er Jahre begann die Regierung, eine Politik der Industrialisierung zu verfolgen, d.h. die Entwicklung von Industrieunternehmen. Das Wachstum des Privatkapitals war für das konsolidierte sowjetische System bereits mehr schädlich als nützlich. Die Artels hingegen passten zum Kurs des Sozialismus. Der Staat beschloss, sie unter seine Kontrolle zu nehmen.

„Alle Handwerksbetriebe waren verpflichtet, einer Branchengewerkschaft beizutreten, Finanzberichte vorzulegen und die Löhne nach Tarif zu zahlen. Große Belegschaften wurden angewiesen, eine Komsomol-Zelle und eine Partei-Zelle zu organisieren“, sagt Chrisanow. Sie wurden von Außenstehenden verwaltet – von Beamten aus der parteiwirtschaftlichen Nomenklatura.

Anfang der 1950er Jahre gab es in der UdSSR 12.660 gewerbliche Artels. Aber man kann die Betreiber nicht wirklich als Privatunternehmer bezeichnen. Der Staat legte die Preise für die Waren der Handwerker fest und gab einen Plan vor, wie viel und welche Art von Produkten hergestellt werden sollten. Im Jahr 1941 beschloss die Partei zum Beispiel, dass die Produkte und Leistungen von Artels höchstens 10 % teurer sein durfte als das staatliche Angebot. Und in Kriegszeiten gab es sechs Beschlüsse dazu, wie viel ein von einem Artel geschnitzter Holzlöffel für die Armee kosten durfte.

Was ist mit den erfolgreichsten Privatunternehmern passiert?

Viele Betriebe wurden nach der Verabschiedung der neuen Gesetze geschlossen, die erfolgreichsten Kooperativen wurden von den sowjetischen Behörden in Staatsbetriebe umgewandelt. „In den 1930er und 1940er Jahren blieben die Handwerker nur dort, wo die Partei und die Regierung sie arbeiten ließen“, erläutert Chrisanow. „Es gab Bereiche, in denen es unrentabel war, staatliche Organisationen zu gründen. In Theatern gab es zum Beispiel Garderoben-Artels. Und es gab Branchen, in denen der Staat ganze Fabriken nach dem Artel-Modell gründete.

In diesen Betrieben wurde eine große Anzahl von Produkten hergestellt, darunter auch technologisch anspruchsvolle. Die Fabrik Radist, die Fernsehapparate herstellte, ist z.B. aus einem Handwerker-Artel hervorgegangen. Oder das Artel Primus, das früher automatische Maschinen für die Front herstellte, wurde 1944 in eine Fabrik umgewandelt und schließlich zu einem Staatsbetrieb. In den Kriegsjahren waren es die Artelarbeiter, die die Front versorgten: Sie nähten Mäntel, Flugzeugabdeckungen, stellten Munition oder Konsumgüter für die Heimatfront her. Tatsächlich wurden sie alle unter staatliche Aufsicht gestellt, dienten dem sozialen Bereich und befassten sich mit den wichtigsten „Baustellen des Kommunismus“. Sie gaben 60 % ihrer Gewinne in Form einer Steuer an den Staat ab, während die restlichen 40 % in die Erweiterung der Produktion, in Prämien für die Beschäftigten oder in die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen reinvestiert wurden.

Wann wurden die Privatunternehmen in der UdSSR verboten?

Aber selbst für erfolgreiche Handwerker war es extrem schwierig. Sie waren Sündenböcke für die Beamten der Wirtschaftsbehörden. Die Kooperativen wurden in der Regel kritisiert – manchmal, weil sie die staatlichen Vorgaben nicht erfüllten, manchmal wegen schlechter Qualität und manchmal, weil sie nicht an die Interessen des Staates dachten. Auch ihnen wurde das Leben immer schwerer gemacht.

So sah die Arbeit in einem der Textil-Artels aus: „Meine Großmutter wurde in den späten 1940er Jahren Buchhalterin in einem Textil-Artel und erzählte mir sehr ausführlich darüber, was sie sich alles einfallen lassen musste, um Stoff, Garn und Wolle zu besorgen. Der Staat versorgte die Handwerker mit knappen Rohstoffen auf der Basis von Restbeständen. Deshalb wurden ein Teil des Materials (das meist gestohlenen war) für Schwarzgeld eingekauft. Bargeld verdienten die Artels damit, dass sie nicht abgeholte [ausgemusterte und weggeworfene] Waren auf den Märkten verkauften. Und von Zeit zu Zeit wurden die Direktoren solcher Artels wegen solchen ,Privatunternehmertums‘ ins Gefängnis gesteckt“, erinnert sich Chrisanow.

Am Ende setzte sich die Ansicht durch, dass die Artels zu viel Geld angehäuft hätten. 1960 wurden alle verbleibenden Kooperativen (die nicht verstaatlicht wurden) verboten, mit Ausnahme derjenigen, die von Invaliden und Bergleuten gegründet worden waren. Die folgende Stagnation und Warenknappheit war zum Teil eine Folge der Zerstörung der Artels, da viele Produktionsketten vernichtet wurden. Von da an gab es nur noch einen Unternehmer im Land – den Staat.

Seit wann sind Privatunternehmen wieder legal?

Während der Perestroika, in den 80er Jahren, nahm die Zahl der sogenannten Farzówstschiki (dt.: Schwarzhändler) auf den Straßen zu: Junge Leute tauschten bei Besuchern und Dienstreisenden aus dem Westen Zigaretten, Anstecker, Kugelschreiber, Feuerzeuge, Schallplatten, Jeans und andere Waren gegen sowjetischen Wodka und Kaviar. Die erworbenen Waren wurden unter der Hand an die sowjetische Bevölkerung verkauft, mit einem hohen Aufschlag. Oft verdienten die Schwarzhändler in einer Woche mehr, als ihre Eltern in einem Monat. Dieses Untergrund-Unternehmertum wurde durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs ermöglicht, obwohl es immer noch illegal war.

1986 wurde ein Gesetz verabschiedet, das es Menschen erlaubte, in ihrer Freizeit ein Nebeneinkommen zu erzielen. Allerdings durfte dies „nur auf der persönlichen Arbeit der Bürgerinnen und Bürger und ihrer Familien basieren“. So wurden Nachhilfeunterricht oder Privattaxis in dem Land möglich. Gleichzeitig galten die sogenannten Kooperative immer noch als Klassenfeinde. Erst am 26. Mai 1988 wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Kooperativen alle Tätigkeiten erlaubte, die nicht gesetzlich verboten sind, einschließlich des Handels.