„Das Geld, das sie mitgebracht hatten, verprassten sie... Sie verschuldeten sich... Sie lebten über die Maßen ausschweifend und waren dem weiblichen Geschlecht verfallen“, schrieb der namhafte Professor Christian Wolff über das Verhalten der russischen Studenten, die aus St. Petersburg zum Studium nach Marburg gekommen waren. Unter diesen Studenten befand sich kein Geringerer als der künftige Universalgelehrte Michail Lomonossow (1711-1765), der die russische Wissenschaft des 18. Jahrhunderts wie kein anderer prägen sollte und nach dem die bis heute wichtigste Universität des Landes benannt ist. Wir erzählen, wie Deutschland das Leben des Wissenschaftlers verändert hat - nicht nur beruflich, sondern auch persönlich.
Der Sohn eines gut gestellten Bauern war so wissensdurstig, dass er heimlich sein Heimatdorf Cholmogory bei Archangelsk in Russlands Norden verließ und zu Fuß nach Moskau zog, um sich an der „Slawisch-Griechisch-Lateinischen Akademie“ einzuschreiben. Zusammen mit einer Handelskarawane wanderte er 1168 Kilometer durch den russischen Winter. Später zog der künftige Gelehrte nach St. Petersburg, wo er an der Universität der Akademie der Wissenschaften studierte und das Studium der deutschen Sprache aufnahm: Sie war im russischen Bildungssystem sehr verbreitet, da sie die Muttersprache eines großen Teils der dortigen Lehrkräfte war.
Michail Lomonossow.
Leonty MiropolskyDamals benötigte das Russische Reich Spezialisten für Bergbau und Metallurgie, um die reichen Bodenschätze Sibiriens zu erschließen. Johann Korff, Leiter der Akademie der Wissenschaften, setzte sich dafür ein, einige begabte Studenten zum Studium an der sächsischen Bergakademie Freiberg zu schicken, wo der bedeutende Physiker Johann Henckel lehrte. Korff organisierte eine Auslandsreise, die in der Universitätsstadt Marburg begann: Zunächst sollten sich die drei ausgewählten Studenten mit den eher „grundlegenden“ Wissenschaften - Mathematik, Physik, Philosophie und Chemie - vertraut machen. Im November 1736 wurden Lomonossow und seine Gefährten an der Universität Marburg immatrikuliert.
Die russischen Studenten tauchten schnell und leidenschaftlich in die Atmosphäre der studentischen Lebensart in Marburg ein. Vor seiner Abreise bekam Lomonossow eine große Summe von 300 Rubel für die Reise - für einen jungen Mann, der in St. Petersburg bescheidene Verhältnisse gewohnt war, öffnete das Geld Türen zu einem Leben voller Luxus. Er kaufte Bücher, legte sich einen neuen Anzug zu, nahm privaten Unterricht in Tanzen und Fechten. Aus St. Petersburg beschwor man die Studenten nachdrücklich: „Keine Fecht- und Tanzlehrer mehr... . Und generell kein Geld für Garderobe und leere Extravaganzen verschwenden!“
Universität Marburg.
Peter the Great Museum of Anthropology and EthnographyAn Fechtstunden kam man übrigens kaum vorbei: Lomonossow schrieb über die deutschen Studenten, sie seien „sehr angriffslustig“ und setzten „hin und wieder die Fäuste und manchmal sogar den Degen“ ein. Die Russen konnten sich jedoch wehren: Der Marburger Universitätsprofessor Christian Wolff, unter dessen Obhut sich die jungen Männer befanden, offenbarte später, dass die Abreise der Studenten für ihn eine Erleichterung war, da „jeder Angst hatte, ihnen etwas zu sagen, denn mit ihren Drohungen versetzten sie alle in Angst und Schrecken“.
Porträt von Christian Wolff.
Peter the Great Museum of Anthropology and EthnographyJohann Korff ermahnte die jungen Leuten vor ihrer Abreise, „sich während ihres Aufenthaltes überall anständig zu benehmen und sich anzustrengen, ihre Studien fortzusetzen.“ Und auch wenn das vorbildliche Verhalten der Schüler in Frage gestellt werden könnte, zeigte Lomonossow hervorragende Ergebnisse in seinem Studium. Er fiel Wolff unter seinen Kommilitonen sofort auf, und dieser nannte ihn „den hellsten Kopf unter ihnen“.
„Ein junger Mann von ausgezeichneten Fähigkeiten, Michail Lomonossow, besuchte seit seiner Ankunft in Marburg fleißig meine Vorlesungen in Mathematik und Philosophie und besonders in Physik und war bestrebt, sich ein fundiertes Wissen anzueignen. Ich zweifle nicht daran, dass er, wenn er seine Studien mit demselben Fleiß fortsetzt, nach seiner Rückkehr in sein Heimatland dem Staat von Nutzen sein kann, was ich ihm von Herzen wünsche“ – mit dieser Würdigung und diesen Wünschen bedachte der Professor Lomonossow.
„Wolff vermittelte ihm die wichtigste Fähigkeit eines Forschers - wissenschaftliches Denken“, bemerkt der russische Historiker Sergej Perewersenzev. Lomonossow zog aus seinen Vorlesungen bei dem Professor nicht nur Wissen, sondern machte auch nützliche praktische Erfahrungen: Jahre später, bei der Planung der Moskauer Universität, berücksichtigte Lomonossow die Ideen Wolffs, der in Marburg nicht, wie damals üblich, auf Latein, sondern auf Deutsch, der Muttersprache der Studenten, lehrte. Also verordnete Lomonossow, die Vorlesungen in Moskau auf Russisch und nicht auf Latein abzuhalten.
Wolffs Lehre beschränkte sich nicht auf die Wissenschaft; einige Lektionen handelten vom Leben im Allgemeinen. Nachdem die russischen Studenten ihr Studium in Marburg beendet hatten, bezahlte Wolf ihre Schulden aus eigenen Mitteln (später erstattete ihm die Akademie jedoch die Auslagen), was Lomonossow so tief beeindruckte, dass er „vor Kummer und Tränen“ kein Wort mehr sagen konnte. Der Professor verstand die Studenten, ihre Schwierigkeiten und Bedürfnisse und behandelte sie trotz ihres Verhaltens mit Herzlichkeit und Geduld. Lomonossow brachte seinem Marburger Mentor zeitlebens große Dankbarkeit und Wertschätzung entgegen, und in seinen Erinnerungen bezeichnete er ihn als „einen Wohltäter und Lehrer“.
Nach ihrem Studium bei Christian Wolff zogen die Studenten nach Freiberg, um dort Metallurgie zu studieren. Ihr neuer Mentor und Professor wurde der Berg-Physiker Johann Henckel: Er war es, der dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, Korff, einst vorgeschlagen hatte, die Studenten ins Ausland zu schicken. Schon vor ihrer Ankunft in Freiberg hatte Henckel von Korff eine wenig schmeichelhafte Beschreibung seiner zukünftigen Studenten erhalten: „Die drei Personen sind sehr unterschiedlich, was Fleiß und Erfolg betrifft; in der Prasserei überbietet einer den anderen.“ Dennoch behandelte der Professor die Neuankömmlinge recht freundlich, und zunächst war das Verhältnis zwischen ihm und Lomonossow ziemlich gut: Er studierte fleißig unter der Anleitung des Professors das Thema, für das diese langjährige Reise gedacht war.
Das Haus in Freiberg, in dem Lomonossow 1739-1740 lebte.
Peter the Great Museum of Anthropology and EthnographyIm Laufe der Zeit brach jedoch ein Konflikt zwischen Henckel und seinem Schüler aus. Als die Akademie die Lebensweise der jungen Leute sah, beschloss sie, ihnen den Unterhalt zu kürzen, und bat den Professor, „außer einem Taler monatlich <...> für Taschengeld und verschiedene Kleinigkeiten kein Geld in die Hand zu geben, sondern <...> überall in der Stadt bekannt zu machen, dass man ihnen nichts leihen darf, weil <...> die Akademie der Wissenschaften für solche Schulden <...> keinen einzigen Groschen zahlen wird.“ Henckel hielt sich strikt an seine Anweisungen, und die Spannungen zwischen ihm und Lomonossow wuchsen. In ihren Briefen nach St. Petersburg schilderten sie sich gegenseitig in den düstersten Farben. Es endete damit, dass Lomonossow Freiberg ohne Erlaubnis verließ, in anderen Städten umherwanderte, in der Hoffnung, einen russischen Diplomaten zu treffen und nach Hause zurückzukehren. Schließlich landete er erneut in Marburg.
Bergakademie in Freiberg in 1866.
Public domainLomonossow wurde in Marburg erwartet. Als er zu Beginn seines Studiums, im Jahr 1736, erstmals in der Stadt ankam, fand er eine Bleibe bei der Witwe eines wohlhabenden Bierbrauers, Frau Elisabeth Zülch. Nach dem Verlust ihres Mannes war sie darauf angewiesen, Zimmer zu vermieten, um ihre Kinder, ihren Sohn Johann und ihre Tochter Elisabeth-Christine, zu ernähren. Als der Student aus Russland zum ersten Mal die Schwelle des Zülch-Hauses überschritt, war Tochter „Lieschen“ gerade einmal sechzehn Jahre alt – und Lomonossow fast zehn Jahre älter als sie. Einige Jahre später, bevor der Student nach Freiberg zog, heiratete das Paar, Ende 1739 brachte Elisabeth-Christine eine Tochter zur Welt.
Das Mädchen galt als unehelich: Die Ehe zwischen einer russischen Studentin und einem Deutschen, die unterschiedlichen Konfessionen angehörten, war ohne den Segen der Kirche geschlossen und somit eine „Zivilehe“. Nach Lomonossows Rückkehr fand die kirchliche Hochzeit statt. In das Marburger Kirchenbuch wurde eingetragen : „Am 6. Juni 1740 heirateten Michail Lomonossow, Kandidat der Medizin, Sohn des Archangelsker Kaufmanns Wassili Lomonossow, und Elisabeth Christina Zülch, Tochter des verstorbenen Stadtratsmitglieds und Kirchenvorstehers Heinrich Zülch.“
Elisabeth-Christine Zilch, Michail Lomonossows Frau,
Public domainNeben seinen naturwissenschaftlichen Forschungen interessierte sich der Wissenschaftler auch für Literatur und Poesie. Sein erstes poetisches Experiment geht auf seine Zeit in Marburg zurück; einige Biographen bringen es mit seinen Gefühlen für Elisabeth-Christine in Verbindung. Es handelte sich um die Übersetzung einer Ode, die dem altgriechischen Lyriker Anakreont zugeschrieben wird: „Ich will die Atriden preisen / Von Kadmos singen / Und der Klang meiner Gusli / Lässt allein Liebe ertönen“.
Lomonossow konnte seine Familie mit dem Geld, das er von der Akademie erhielt, kaum ernähren. Der Wissenschaftler verschuldete sich erneut, und seine Gläubiger drohten ihm sogar mit dem Gefängnis. Außerdem war er gezwungen, seine Ehe mit einer deutschen Frau gegenüber St. Petersburg zu verheimlichen. Es war klar, dass die Zeit gekommen war, sich zu entscheiden, wie er leben wollte (bleiben oder nach Hause gehen). Nachdem er die Situation überdacht hatte, sah sich der Student „gezwungen, diese Stadt zu verlassen, und sich unterwegs von Almosen zu ernähren ... Er verabschiedete sich außer von seiner Frau von niemandem, schlich sich eines Abends vom Hof und machte sich auf den Weg nach Holland.“ Seine Pläne wurden jedoch durch einen Zufall durchkreuzt: In einem Dorf in der Nähe von Düsseldorf entdeckten ihn ein preußischer Rekrutierungsoffizier und seine Begleiter.
„Der Offizier forderte ihn sehr höflich auf, sich neben ihn zu setzen, mit den ihm unterstellten Soldaten zu speisen und gemeinsam etwas zu trinken. Während des üppigen Mahls wurde er zum königlich-preußischen Dienst beglückwünscht. Lomonossow war so betrunken, dass er sich nicht daran erinnern konnte, was in der Nacht mit ihm geschehen war. Als er aufwachte, sah er einen roten Kragen, der Teil der preußischen Uniform war. In seinen Taschen ertastete er etwas preußisches Geld. Der Offizier nannte ihn einen tapferen Soldaten und prophezeite ihm Glück in der preußischen Armee. Die Soldaten nannten ihn Bruder...“.
Das Haus in Marburg, in dem Lomonossow lebte.
Christos Vittoratos (CC BY 2.5)So fand sich der russische Gelehrte, der über Nacht zum preußischen Reiter geworden war, in der Festung Wesel wieder, über als 170 km von Marburg entfernt, wohin man Rekruten aus der Umgebung schickte. Fahnenflucht stand in der preußischen Armee unter harter Strafe, aber Lomonossow war entschlossen zu entkommen. Eines Nachts, als die Soldaten um ihn herum schliefen, wagte sich der Student durch ein Fenster hinaus, überwand den Festungswall, schwamm durch den Graben und floh, verfolgt von preußischen Soldaten. Der Flüchtige konnte seine Verfolger abhängen. Nachdem er erfolglos durch fremde Länder gewandert war, kehrte Lomonossow nach Marburg zurück. Dort schrieb er einen Bußbrief nach St. Petersburg.
Moskauer Universität, die den Namen von Michail Lomonossow seit 1940 trägt.
Public domainSo kehrte der Wissenschaftler im Sommer 1741 im dritten Anlauf in seine russische Heimat zurück, nachdem er fast fünf Jahre im Ausland verbracht hatte. Er ließ seine schwangere Frau in Marburg zurück, die er immer noch geheim hielt. Elisabeth-Christine kam erst nach zwei Jahren voller Angst und Ungewissheit wieder mit ihrem Mann zusammen. Mit Hilfe eines russischen Diplomaten machte sie auf eigene Faust den Aufenthaltsort Lomonossows ausfindig. Durch ihn übergab sie ihrem Mann einen Brief. Bei dessen Lektüre soll Lomonossow biografischen Aufzeichnungen zufolge ausgerufen haben: „Mein Gott! <...> Die Umstände haben mich gehindert <...> nicht nur daran, sie zu mir zu holen, sondern auch daran, ihr zu schreiben. Jetzt lass sie kommen, und morgen schicke ich 100 Rubel für die Reise“. So fand die Familie des Gelehrten schließlich wieder zusammen und die abenteuerliche deutsche Zeit seiner Jugend ein Ende.
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