Von München bis Weimar: Das „deutsche“ Leben von Wassily Kandinsky

Russia Beyond (Musée National d'Art Moderne, Centre Georges Pompidou / Public Domain, Heritage Images / Getty Images)
Sowohl die deutsche als auch die russische Kultur waren für den berühmten Künstler gleichermaßen wichtig. Dennoch war es Deutschland, das in Kandinskys Leben eine Schlüsselrolle spielte: Hier wurde er als Künstler und Kunsttheoretiker bekannt und berühmt.

Wohl kein anderer russischer Künstler ist in Deutschland so bekannt wie Wassily Kandinsky. Das liegt nicht nur daran, dass er viele Jahre in Deutschland gelebt hat. In der Tat war es Kandinsky, der die Grundlagen für neue künstlerische Tendenzen legte, die dann die deutsche und die Weltkunst des 20 Jahrhunderts beeinflusste. 

Kandinsky war nicht nur einer der Begründer der abstrakten Malerei, sondern auch der erste, der zeigte, dass es für das Entstehen eines Bildes nicht unbedingt ein Motiv nötig ist. Die Idee ist obligatorisch, aber nicht die Handlung. Und die Hauptfigur kann weder eine Person noch ein Gegenstand sein, sondern es sind die Farbe und der Strich auf der Leinwand. Kandinsky hat es den Künstlern des 20. Jahrhunderts ermöglicht, jedes komplizierte Gefühl oder Phänomen auf Punkte, Linien und einfache Formen zu reduzieren. Damit war die Abstraktion geboren.

Kandinsky im Alter von fünf Jahren, 1872.

Kandinsky sprach und schrieb schon in jungen Jahren fließend Deutsch. Seine Großmutter mütterlicherseits war Deutschbaltin und sprach mit ihrem Enkelkind häufig Deutsch. Sie vermittelte Kandinsky deutsche Märchen. Daher war Kandinsky mit der deutschen Kultur und der deutschen Sprache sehr vertraut. „Als Kind habe ich viel Deutsch gesprochen“, merkte der Künstler selbst an

1866—1896: Moskau

Seine Eltern sagten Kandinsky eine Zukunft als Jurist voraus. 1886 trat er an der juristischen Fakultät der Universität Moskau ein. Sechs Jahre später schloss der zukünftige Maler sein Studium ab. Nach weiteren sieben Jahren (1893) begann Kandinsky an der juristischen Fakultät zu unterrichten. Als Kandinsky dreißig Jahre alt wurde (1896), hatte er jedoch beschlossen, seine juristische Karriere aufzugeben und sich ausschließlich der Malerei zu widmen.

1892

Später schrieb Kandinsky, dass zwei Ereignisse mit dieser Entscheidung zusammenhingen: sein Besuch von Richard Wagners Oper Lohengrin im Bolschoi-Theater und seine Bewunderung für Claude Monets „Heuschober“. Diese Leinwand wurde 1895 auf der Ausstellung des französischen Impressionismus in Moskau gezeigt und hatte Kandinsky in Erstaunen versetzt .

1896—1911: München

So  wurde Kandinsky mit der Zeit von der Wissenschaft desillusioniert und wandte sich der Kunst zu. Er fühlte sich nicht mehr zu Professuren hingezogen, und die Wissenschaft gab ihm keine Antworten auf die ewigen Fragen. Er gab die Wissenschaft auf und beschloss, Künstler zu werden, um das zu tun, was er seit seiner Kindheit am meisten liebte. 

Im Jahre 1896 zog der 30-jährige Kandinsky nach München, da die bayerische Metropole um die Jahrhundertwende als Kunststadt galt. Europa war der beste Ort, um Kunst zu studieren - dort entstanden alle aktuelle Kunstrichtungen. Außerdem lag die deutsche Kultur ihm sehr am Herzen. Hier, in der großen europäischen Kunstmetropole, versenkte er sich in die Welt der Malerei. 

Wassily Kandinsky mit der Künstlergruppe „Phalanx“.

„So ging ich nach München, dessen Schulen damals in Russland hoch geschätzt wurden. Zwei Jahre besuchte ich die berühmte Ažbè-Schule  […]. Danach wollte ich die Zeichenklassen der Münchener Akademie versuchen, fiel aber bei der Prüfung durch“, schrieb Kandinsky.

Bei nächsten Versuchen gelang es ihm trotzdem, in die Akademie der Bildenden Künste einzutreten. So 1898 wechselte Kandinsky von Ažbe an die Akademie zu Franz von Stuck. 

Kandinsky führte ein bewegtes Leben: Er nahm an verschiedenen Ausstellungen teil und war Mitgründer mehrerer Kunstvereine. So gründete er nach nur einem Jahr Studium die Künstlergruppe „Phalanx“ und gab dort Zeichen- und Malunterricht. Eine der Schülerinnen war die aufstrebende deutsche Künstlerin Gabriele Münter, die 11 Jahre jünger war als Kandinsky. Die Beziehung zwischen Mentor und Schülerin hielt bis um 1916.

Wassily Kandinsky und Gabriele Münter.

Zusammen mit Gabriele nahm Kandinsky aktiv am kulturellen Leben teil, und zahlreiche Maler, darunter auch aus Russland, wandten sich an ihn. Als das Paar ein Haus in Murnau bei München erwarb, wurde es zum Anziehungspunkt für viele russische Künstler. 

Aber Kandinsky hatte zu viel Energie und Ideen, um lange in Murnau zu bleiben. So kehrte der Künstler bald nach München zurück und gründete zusammen mit Münter und einigen anderen Malern die „Neue Künstlervereinigung München“. Die Kubisten, Futuristen und Fauvisten nehmen an den Ausstellungen des Vereins teil. Durch die Bemühungen von Kandinsky und seinen Weggefährten wurde München zum Zentrum des künstlerischen Lebens in Europa. 

Kandinskys Buch „Über das Geistige in der Kunst“.

Während eines Jahrzehnts in München schrieb Kandinsky viele Notizen darüber, wie er die zeitgenössische Kunst sah. Und 1910 hatten sich diese Ideen zu einem kohärenten System von Ansichten zusammengefügt - Kandinsky verfasste sein erstes theoretisches Werk - „Über das Geistige in der Kunst“. In dem Buch formuliert der Künstler die Prinzipien der gegenstandslosen Kreativität und verbindet sie mit dem Problem der Spiritualität in der Kunst. Das Werk wurde in München veröffentlicht und verbreitete sich bald nach seiner Erscheinung nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland. Kandinskys revolutionäre Ideen wurden schließlich einem breiten Kreis von Künstlern bekannt. 

Das Münter-Haus heute.

Zusammen mit dem Künstler Franz Marc, mit dem er sich anfreundete, gründete Kandinsky 1911 die berühmte Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“. „Beide liebten wir blau. Marc mochte Pferde, und ich Reiter. So kam der Name ganz von selbst“, erinnerte sich Kandinsky später an den Namen der Gruppe. Die Gruppe veröffentlichte nur eine Ausgabe des Programmheftes, des legendären „Almanachs“ des „Blauen Reiters“ im Jahr 1912, veranstaltete einige Ausstellungen und löste sich nach drei Jahren Arbeit auf. 

Wassily Kandinsky mit einer Gruppe von Künstlern des „Blauen Reiters“.

Zusammen mit Gabriele Münter lebte Kandinsky mehrere Jahre in Murnau bei München. Das Haus, in dem sie lebten und arbeiteten, wurde damals als „Russisches Haus“ bekannt. Heute heißt das Haus-Museum offiziell Münter-Haus. Es wurde in seinen ursprünglichen Zustand vom Anfang des 20. Jahrhunderts zurückversetzt. Die von Kandinsky selbst bemalten Möbel sind erhalten geblieben; die Wände sind mit kleinen Gemälden und Stichen der beiden Künstler geschmückt. 

Dieses „Russisches Haus“ diente als Treffpunkt der Mitglieder des „Blauen Reiters“. Kurz gesagt, es war fünf Jahre lang ein Zentrum für progressives künstlerisches Denken und eine Art kreatives Labor für neue Tendenzen in der Malerei. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ging diese romantische Zeit zu Ende.

Der „Almanach“ des „Blauen Reiters“ aus dem Jahr 1912.

1914—1921: Russland

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Kandinsky als russischer Staatsbürger gezwungen, in sein Heimatland zurückzukehren. Sein Aufenthalt in Russland dauerte sieben lange Jahre. Wegen des Militärkonflikts verlor er sein Hab und Gut in München.

Im Jahr 1916 lernte er eine junge Frau kennen, die er für den Rest seines Lebens ebenso wie die Malerei und die Musik liebte. Sie hieß  Nina von Andrejewskaja. Die aus einer russischen Adelsfamilie stammende Frau war halb so alt wie Kandinsky: Er war 50, sie war, je nach Quelle, 22 oder 23. Sie trafen sich am Telefon: Das Andrejewskaja rief Kandinsky an, um ihm die Unterlagen eines gemeinsamen Bekannten zu übergeben. Und als er sie hörte, verliebte er sich in ihre Stimme und bat sofort um ein Treffen. Nach dem Telefongespräch malte er ein Aquarell „An die unbekannte Stimme“.

„An die unbekannte Stimme“.

Im nächsten Jahr, 1917, brach die Oktoberrevolution aus. Der unpolitische Kandinsky begegnete sie ohne Begeisterung, kritisierte sie aber auch nicht. Er schrieb: „Wenn die Revolution positive Veränderungen für Russland und sein Volk mit sich bringt, ist das eine gute Sache, und ich kann sie nur begrüßen.“ 

Nach der Revolution konzentrierte sich Kandinsky auf die Lehre und die theoretische Arbeit. Er schrieb mehrere Artikel über Kunsttheorie, tauschte sich mit führenden Künstlern aus und lehrte an den Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten (so hieß eine von 1920 bis 1930 bestehende staatliche Kunsthochschule in Moskau).

Wassily Kandinsky mit seiner Frau Nina.

Trotz seines aktiven Lebens und vieler hoher Positionen blieben Kandinskys künstlerische Ideen nur Theorie. Auch der Künstler selbst stand mit seinen anspruchsvollen Gemälden im Vergleich zu dem jüngeren und revolutionäreren Malewitsch im Hintergrund. 

Unter diesen Bedingungen fühlte sich Kandinsky nicht in der Lage, sich selbst zu verwirklichen, was ihn dazu veranlasste, das Land zu verlassen. Und eine solche Gelegenheit bot sich ihm bald. 

1922—1933: Weimar und Dessau

1921 erhielt Kandinsky ein Angebot für eine Professur am Bauhaus (Hochschule für Bauwesen und künstlerische Gestaltung) in Deutschland. Deren Gründer Walter Gropius lud ihn ein, die Werkstatt für Wandmalerei in Weimar zu übernehmen, wohin der Künstler mit seiner Frau Nina ging. 

Walter Gropius, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Georg Muche, Nina G. in Dessau, 4. Dezember 1926

Das Bauhaus ist dafür bekannt, dass es Künstlern Design beibringt und eine besondere kreative Denkweise fördert. Kandinsky war an dem Vorschlag interessiert, weil diese seinen eigenen nahe standen. Mit dem Konzept des Bauhauses wollte Walter Gropius alle Arten des künstlerischen Schaffens zusammenführen und Architektur, Malerei, Kunsthandwerk und Baugewerbe in einer einzigen Kunst der Architektur vereinen. Dieses Prinzip entsprach Kandinskys Vorstellungen von einem Gesamtkunstwerk, das er bereits im „Blauen Reiter“ zu verwirklichen suchte. 

Die sowjetischen Behörden genehmigten die Ausreise. Sie wollten sich über das künstlerische Leben in Deutschland auf dem Laufenden halten und schickten Kandinsky, um kulturelle Verbindungen zwischen dem jungen Sowjetstaat und Europa herzustellen. 

„Komposition VIII“

Dies gab Kandinsky die Möglichkeit, zu lehren und seine kreativen Ideen weiterzuentwickeln. Dort fand er sich schließlich im Kreis von Gleichgesinnten wieder. Die „Komposition VIII“ (1923) kann als das wichtigste malerische Werk der Weimarer Zeit angesehen werden. 

Doch 1925 wurde das Bauhaus in Weimar aufgrund ständiger Angriffe rechter Parteien geschlossen. Das wiedereröffnete Bauhaus in Dessau bot den Künstlern recht gute Bedingungen. Kandinsky konnte sowohl lehren als auch selbständig schaffen. Im Jahr 1925 entstand das Gemälde „Gelb-Rot-Blau“.

„Gelb-Rot-Blau“

Es war Kandinsky nicht vergönnt, in sein Heimatland zurückzukehren. Bereits 1922 hatten die sowjetischen Behörden alle Formen der abstrakten Kunst verboten. Malerei, Musik, Bildhauerei und Literatur - alles musste fortan für die Ideale des Sowjetstaates arbeiten. Kandinsky konnte solche Regeln nicht akzeptieren und blieb bis in die 1930er Jahre in Deutschland, als die abstrakte Malerei auch dort verboten wurde. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) unter der Führung von Adolf Hitler kam am 30. Januar 1933 an die Macht. Die Situation in Deutschland begann, derjenigen in der Sowjetunion zu ähneln. Die Avantgardekunst, einschließlich der abstrakten Malerei, galt als entartet. 

Dazu nahmen antikommunistische und antisemitische Stimmungen in Deutschland zu. Einige hielten Kandinsky für einen Kommunisten und sowjetischen Agitator, andere sagten, er sei ein Spion, und die Bediensteten im Haus Kandinskys munkelten sogar, der Künstler sei Jude. 

Kandinsky war weder ein Kommunist noch ein Jude. Aber diese Atmosphäre machte ihm das Leben schwer. Schließlich beschlossen Kandinsky und seine Frau 1933, Deutschland zu verlassen. 

1934—1944: Paris

Das Paar ging nach Frankreich, wo sie eine kleine Wohnung in einem Vorort von Paris, Neuilly-sur-Seine, mietete. Sie  hofften, nach Deutschland zurückkehren zu können. Dies ist jedoch nicht geschehen. 

„Dominante Kurve “, 1936

Die Abreise nach Paris kam zur rechten Zeit. Die Nazis schlossen das Bauhaus. Kandinskys Gemälde wurden, wie die anderer Avantgardekünstler, aus deutschen Museen verkauft, eingelagert oder ganz vernichtet. Die frühere Geliebte des Künstlers, Gabriele Münter, musste ein Zimmer ihres Hauses zumauern, um ihre verbliebenen Kandinsky-Gemälde und -Dokumente zu verbergen.

Kandinsky in seinem Studio in Neuilly-sur-Seine bei Paris, 1937

Das Leben des Künstlers endete 1944 durch einen Schlaganfall. Er erlebte seinen 78. Geburtstag nicht mehr.

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