Warum Russen?
Im Sommer 1775 wurde den Briten klar, dass sie in einen großen Krieg in Nordamerika hineingezogen werden, der zahlenstarke Truppen erfordert. Die wegen ihrer scharlachroten Uniformen „Rotröcke“ (redcoats) genannten englischen Soldaten konnten diese Anforderungen allerdings bei weitem nicht erfüllen. Die „Herrscherin der Meere“ hatte sich immer auf die Flotte verlassen und verfügte nur über eine relativ kleine Landtruppe, deren Garnisonen zudem von Irland über Afrika bis zu den karibischen Inseln verstreut waren.
London beschloss aus mehreren Gründen, militärische Verstärkung in Russland zu suchen. Seit dem siegreichen russischen Krieg gegen die Türken 1768-1774 war noch kein Jahr vergangen, und die russische Armee, die sich in diesem Krieg bewährt hatte, war immer noch zahlreich und kampfbereit.
Die Beziehungen zwischen den Großmächten waren durchaus freundschaftlich. Die Briten hatten die Russen sogar in ihrem Krieg gegen das Osmanische Reich unterstützt und hofften nun auf Dankbarkeit.
Schließlich wusste Georg III., wie empfindlich Katharina II. auf Bestrebungen reagierte, die Macht der Monarchie zu beschneiden. Die Zarin hatte gerade einen massiven Kosaken- und Bauernaufstand unter Führung von Jemeljan Pugatschow niederschlagen lassen, und so hoffte der König, dass sie ihren „Bruder“ nicht in ähnliche Schwierigkeiten bringen würde.
Große Erwartungen
Im Juni 1775 begann der britische Botschafter Robert Gunning zu sondieren, ob die Briten bei der Niederschlagung der Aufständischen mit russischer Unterstützung rechnen könnten, und war von der Antwort des Leiters der russischen Außenpolitik, Nikita Panin, sehr angetan. Panin versicherte dem Botschafter, dass die Zarin bereit sei, „seiner Majestät jede gewünschte Unterstützung zukommen zu lassen, und zwar auf jede Art und Weise, die er für angemessen hält“.
Im Herbst erhielt Gunning detaillierte Anweisungen aus London. In einem Schreiben an den Botschafter vom 1. September bat ihn der Staatssekretär für das nördliche Department (Secretary of State for the Northern Department) Henry Howard, der russischen Zarin mitzuteilen, dass „die angeforderte Unterstützung aus 20.0000 disziplinierten Infanteristen bestehen soll. Vollständig ausgerüstet (mit Ausnahme der Feldwaffen) und, sobald die Ostseeschifffahrt im Frühjahr eröffnet wird, bereit zur Einschiffung an Bord von Transportschiffen, die geschickt werden, um von dort aus mit dem Großteil der Truppen nach Kanada zu segeln, wo sie unter dem Kommando des britischen Oberbefehlshabers stehen sollen".
Gunning erhielt auch einen an Katharina II. gerichteten Brief des Königs. In diesem Schreiben stellte Georg III., der Zarin gleichwohl dankend, die Sache so dar, als sei sie es gewesen, die die Entsendung russischer Soldaten auf einen anderen Kontinent veranlasst habe: „Ich nehme die von Ihnen vorgeschlagene Hilfe durch einen Teil Ihrer Truppen an, auf die ich aufgrund der Aufsässigkeit meiner Untergegebenen in meinen amerikanischen Kolonien vielleicht zurückgreifen muss."
Natürlich sollte die Teilnahme der russischen Truppen bezahlt werden. Man dachte daran, den Preis in der nächsten Phase der Verhandlungen auszuhandeln. Wie sich jedoch herausstellte, waren die Versprechen der russischen Zarin, den Briten „jede Art von Unterstützung“ zukommen zu lassen, von diesen etwas missverstanden worden.
Unerwartete Absage
Katharina II. verfolgte die Ereignisse in Nordamerika aufmerksam. Sie duldete eigentlich keine Verletzung der monarchistischen Ordnung, erkannte aber einen großen Unterschied zwischen Pugatschow und den rebellischen Kolonisten. Während Ersterer offen Anspruch auf den Thron erhob, indem er sich als der auf wundersame Weise entkommene Zar Peter III. von Russland ausgab (Katharinas Ehemann, der von ihr 1762 durch einen Staatsstreich abgesetzt worden war und kurz darauf auf mysteriöse Weise starb), bedrohten Letztere weder König Georg selbst noch die herrschende Dynastie.
Die Zarin hatte keinen Zweifel daran, dass Großbritannien in Zukunft ein ernsthafter geopolitischer Rivale Russlands werden würde. Je tiefer das britische Königreich in die nordamerikanischen Geschehnisse verwickelt und dadurch geschwächt würde, desto besser für Russland. Sie wollte nicht, dass London seine kolonialen Probleme um den Preis des Blutes russischer Soldaten löste.
Sehr fraglich war auch, wie die führenden europäischen Mächte, die zu diesem Zeitpunkt die britischen Bestrebungen bereits kannten, auf die Entsendung eines Expeditionskorps reagieren würden. Und schließlich waren der harte Krieg gegen die Türken und der verheerende Pugatschow-Aufstand auch an Russland nicht spurlos vorübergegangen - das Land musste zur Ruhe kommen.
Nach dem Scheitern der Mission in St. Petersburg trat ein verärgerter Gunning zurück und die britischen Diplomaten eilten nach Hessen, um dort die begehrte Militärhilfe zu erlangen.
Bewaffnete Neutralität
Selbst nach diesem Ereignis ließen die Briten die russischen Truppen nicht aus ihren Plänen verschwinden. 1777 schrieb Lord William Howe, der Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte in Nordamerika, aufgebracht angesichts der unzureichenden Verstärkung aus Europa, dass ein Korps von zehntausend kampffähigen russischen Soldaten „den Erfolg des Krieges sicherstellen würde“.
London richtete mehrere Bitten um militärische Unterstützung an Katharina II., die jedoch jedes Mal unter verschiedenen Vorwänden abgelehnt wurden. „Wir sind keineswegs erfreut, aus guter Quelle zu erfahren, dass die Bittgesuche und Angebote des britischen Hofes an die Zarin von Russland mit Geringschätzung zurückgewiesen wurden“, schrieb der erste amerikanische Präsident George Washington 1779 an seinen französischen Amtskollegen Gilbert Lafayette.
Im Jahr 1780 gab Russland eine Erklärung zur bewaffneten Neutralität ab, die es den nicht kriegführenden Staaten erlaubte, mit jedem der Krieg führenden Staaten freien Handel zu treiben. Dem schlossen sich bald die Niederlande, Schweden, Dänemark, Österreich, Preußen und Portugal an. Großbritannien empfand diesen Schritt als „unfreundlich“.
Katharina II. stand in diesem Konflikt auf der Seite der Kolonisten, und als vorsichtige und pragmatische Politikerin hatte sie es nicht eilig, die amerikanische Unabhängigkeit anzuerkennen. Diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Staaten wurden erst 1809 unter der Herrschaft des Lieblingsenkels der Zarin, Alexander I., aufgenommen.