Der Vertrag von Brest: Wie Russland eine Million Quadratkilometer und 56 Millionen Einwohner verlor

Geschichte
BORIS JEGOROW
Der Vertrag von Brest-Litowsk raubte dem Land riesige Gebiete und zig Millionen Einwohner und war einer der Auslöser für den ausbrechenden Bürgerkrieg, der zu einer umfassenden Intervention der Westmächte führte.

Am 3. März 1918 wurde in Brest-Litowsk (im südwestlichen Teil des heutigen Belarus) ein Friedensvertrag zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich unterzeichnet. Das Land zahlte einen hohen Preis für den Ausstieg aus dem Ersten Weltkrieg – es verlor bis zu einer Million Quadratkilometer Territorium, eine Bevölkerung von über 56 Millionen Menschen und ein enormes Industriepotenzial.

Was veranlasste die bolschewistische Regierung zu diesem Schritt?

„Eine Welt ohne Annexionen und Kontributionen“

Der Wunsch von Wladimir Lenin und seinen Mitstreitern, Russland so schnell wie möglich aus dem Krieg herauszuholen, zog viele Anhänger der Bolschewiki an. Die Gesellschaft war des jahrelangen Gemetzels überdrüssig. Auch die Kampfbereitschaft der Streitkräfte war aufgrund der „Demokratisierung“ der Armee nach dem Sturz der Autokratie auf einem extrem niedrigen Niveau.

Im November 1917 stürzten die Bolschewiki die Provisorische Regierung, die weitere militärische Maßnahmen befürwortet hatte, und übernahmen die Macht im Lande. Sie richteten sofort einen Vorschlag an die westlichen Verbündeten, mit ihrem Gegner einen Frieden ohne Annexion oder Kontribution zu schließen, doch diese erkannten die Sowjetregierung nicht als rechtmäßig an und ignorierten diese Initiative.

Daraufhin wurde ein Vorschlag für Friedensverhandlungen direkt an die Deutschen geschickt. Diese ihrerseits behandelten ihn mit großer Aufmerksamkeit – der Krieg an zwei Fronten zehrte an ihren Kräften.

Nachdem man sich auf einen Waffenstillstand geeinigt hatte, entsandten beide Seiten Delegierte nach Brest-Litowsk, wo die Friedensverhandlungen am 22. Dezember begannen. Generalmajor Max Hoffmann, Chef des Generalstabes beim Oberbefehlshaber Ost, dem Prinzen Leopold von Bayern, erinnerte sich: „Ich habe viel darüber nachgedacht, ob es für die deutsche Regierung und das Oberkommando nicht besser wäre, Verhandlungen mit der bolschewistischen Macht abzulehnen. Indem wir den Bolschewiken die Möglichkeit gaben, den Krieg zu beenden und damit den Friedenswillen des gesamten russischen Volkes zu befriedigen, haben wir ihnen geholfen, an der Macht zu bleiben.“

Diplomatische Sackgasse

Formal erklärten sich die Deutschen bereit, über den Frieden ohne Annexionen und Kontributionen zu sprechen. Indem sie jedoch die Anerkennung der „Unabhängigkeit“ der von ihnen in den besetzten Gebieten geschaffenen Marionettenregime forderten, strebten sie in Wirklichkeit die Anerkennung der Abtretung dieser Gebiete an Berlin an. Die Bolschewiki hingegen rechneten damit, dass keine Truppen der einen oder anderen Seite anwesend sein würden und dass den lokalen Völkern das Recht auf Selbstbestimmung zugestanden werden würde. Da die von den Deutschen eingesetzten handverlesenen Nationalkomitees den Russen nicht passten, wurde ihre Forderung abgelehnt, und die Verhandlungen zogen sich in die Länge.

Die Situation wurde am 9. Februar erheblich komplizierter, als die Mittelmächte in Brest mit der Ukrainischen Volksrepublik, einem alternativen Machtzentrum zu den Bolschewiki in der Ukraine, das mit diesen in einen bewaffneten Konflikt geraten war, Frieden schlossen. Als Gegenleistung für die diplomatische Anerkennung und die militärische Unterstützung versprachen die Ukrainer, die Deutschen und Österreicher mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen zu versorgen.

Am nächsten Tag stellte die deutsche Seite Russland ein Ultimatum, seine Forderungen unverzüglich zu akzeptieren. Der Volkskommissar (Minister) für Auswärtige Angelegenheiten, Leo Trotzki, der an den Gesprächen teilgenommen hatte, schlug daraufhin die Formel Weder Krieg noch Friedenvor: „Wir beenden den Krieg, demobilisieren die Armee, unterzeichnen aber keinen Friedensvertrag.“

Lenin machte die Entscheidung zur Demobilisierung bald wieder rückgängig. Dennoch zogen die Bolschewiki die Verhandlungen in die Länge, hofften auf einen revolutionären Ausbruch in Deutschland und riefen die deutschen Arbeiter offen zum Aufstand auf. Am Ende erwartete sie jedoch lediglich ein Angriff der deutschen Armee.

Deutscher Ansturm

Am 18. Februar starten deutsche und österreichisch-ungarische Truppen im Rahmen der Operation Faustschlag eine Offensive von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Die russische Armee, die moralisch schon fast völlig zerrüttet war, leistete kaum Widerstand, und die kämpfenden Einheiten der Roten Garde waren immer noch zahlenmäßig zu gering und zu zersplittert.

„Der komischste Krieg, den ich je gesehen habe“, schrieb Generalmajor Hoffmann: „Eine kleine Gruppe von Infanteristen mit einem Maschinengewehr und einer Kanone auf dem vorderen Wagen zieht von Station zu Station, nimmt eine nach der anderen Gruppe  Bolschewiken gefangen und zieht weiter.“

Am 21. Februar wurde Minsk eingenommen, am 2. März Kiew, wohin die von den Sowjets vertriebene Führung der Ukrainischen Volksrepublik zurückgekehrt war.Das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine, Lettlands, Estlands und Weißrusslands war unter Kontrolle. Die deutschen Truppen waren nur noch 170 km von Petrograd (St. Petersburg), der Hauptstadt Sowjetrusslands, entfernt.

Der „dreckige“ Frieden

Angesichts der Krise war die bolschewistische Führung uneins, wie sie weiter vorgehen sollte. Am Ende setzte sich Lenin mit seinem Standpunkt durch: Er hatte für eine sofortige Annahme der gegnerischen Forderungen plädiert, um das politische Regime zu retten.

Die Parteien setzten sich wieder an den Verhandlungstisch. Die Deutschen hatten ihre Forderungen verschärft. Gemäß dem am 3. März 1918 in Brest-Litowsk unterzeichneten Friedensvertrag (und seinem Zusatzvertrag vom 27. August desselben Jahres) verlor Russland die baltischen Staaten, Polen und Teile Weißrusslands und musste seine Truppen aus Finnland und der Ukraine abziehen, deren Unabhängigkeit es nun anerkennen musste. Ein Teil des Kaukasusgebietes sollte an das Osmanische Reich abgetreten werden.

Außerdem sollte Russland sein gesamtes Heer und seine Marine demobilisieren,Kontribution zahlen, den Deutschen bis 1925 das Meistbegünstigungsrecht einräumen, die zollfreie Ausfuhr von Rohstoffen und Erzen nach Deutschland gestatten und die Propaganda und Agitation gegen die Mittelmächte einstellen.

Schwerwiegende Folgen

Kaiser Wilhelm II. bezeichnete den Vertrag von Brest als „einen der größten Triumphe der Weltgeschichte, dessen Bedeutung erst unsere Enkel voll zu schätzen wissen werden“. In Russland wurde er jedoch zum Auslöser des Bürgerkriegs.

„Diesen Verrat konnten selbst die bolschewistischen Matrosen, die Offiziersmörder von gestern, nicht ertragen“, schrieb der Ingenieur Nikolai Wrangel: „Sie begannen zu schreien, dass die Krim gegen die Deutschen verteidigt werden müsse, eilten durch die Stadt (Sewastopol) und suchten nach Offizieren, um sie aufzufordern, wieder das Kommando über die Schiffe zu übernehmen. Die Andreas-Flagge wehte wieder anstelle der roten.“

Die Briten, Franzosen und Amerikaner, geschockt von der Aussicht auf die Verlegung Dutzender befreiter deutscher Divisionen an die Westfront, organisierten eine groß angelegte Intervention in Russland, um das Land wieder auf den Kriegspfad zu bringen und dem Feind den Zugriff auf die in den Häfen angesammelten militärischen Vorräte zu verwehren, mit denen sie selbst noch unlängst die russische Armee versorgt hatten.

Die Bolschewiki ihrerseits betrachteten den Frieden von Brest als eine vorübergehende Maßnahme. Am 13. November 1918, dem ersten Tag der deutschen Revolution, wurde er durch einen Beschluss des Allrussischen Zentralen Vollzugskomitees annulliert.

Bald darauf begannen die deutschen Truppen, sich aus den besetzten Gebieten des ehemaligen Russischen Reiches zurückzuziehen. Unmittelbar danach folgte die Rote Armee, die entschlossen war, das zurückzugewinnen, was sie für ihr Eigenes hielt.