Wie eine seltsame Obsession im russischen Norden zu einer Epidemie von Geisterbesessenheit wurde?

Geschichte
JEKATERINA SINELSCHTSCHIKOWA
Der Schluckauf wurde erstmals im 16. Jahrhundert erwähnt. Die Menschen, vor allem Frauen, behaupteten eine nach der anderen, dass sie von jemandem besessen seien. Wir sprachen mit der Kulturanthropologin Olga Christoforowa darüber, was darunter zu verstehen ist und welche wissenschaftliche Erklärung es für dieses Phänomen gibt.

Eine kleine, hutzelige alte Frau namens Stepanida Wicharewa aus dem Dorf Grischata an der Grenze zwischen Perm und Udmurtien spricht ganz alltäglich über ihre Kinder und das Wetter. Plötzlich unterbricht ein Schluckauf das Gespräch: Die Stimme der alten Frau wird lauter, aber sie klingt, als käme sie aus ihrer Brust und nicht aus ihrer Kehle. Diese andere Stimme unterbricht sie, so wie ein anderer Mensch dazwischenreden kann: Sie flucht oder jammert oder streitet sogar mit ihrer „Wirtin“.

Nach dieser Unterbrechung durch den Schluckauf schweigt die Frau eine Weile. Wenn sie spricht, tut sie dies auf einmal sehr leise, als falle es ihr schwer. Offenbar raubt der Anfall viel Energie - ihre Mimik und ihr Augenausdruck haben sich verändert. Sie muss sich erst einmal erholen.

Der Schluckauf lebt in ihr, seit sie 17 Jahre alt ist, also fast ihr ganzes Leben lang. Er sagt ihr, was sie tun und was sie nicht tun soll. Es hat Zeiten gegeben, in denen er sie beim Beten übermannte - er störte sie beim Beten durch „Ohs“ und „Ochs“ und andere Zwischenrufe.

Dieser Fall von Besessenheit mit dem sogenannten Schluckauf oder „Hicks“ ist einer von vielen, die von Ethnographen im russischen Norden, im Ural und in Sibirien beschrieben wurden. Schluckauf (russisch „ikota“) kommt von dem Wort „hicksen“ (russisch ikat‘), was so viel bedeutet wie „herausschreien“, „aufschreien“. Ein Mensch, der unter Schluckauf leidet, verspürt Schmerzen in verschiedenen Körperteilen und beginnt, sich so zu verhalten, als würde er von jemandem beherrscht. Dieser „jemand“ kann ihm zum Beispiel andere Essensvorlieben, Gewohnheiten und Verhaltensweisen aufzwingen. Die Besessenheit wird manchmal von Schluckauf, spontanem Hervorbringen von Lauten oder Kehlkopfspasmen begleitet, bei denen sich die Stimme bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Die ersten Belege für diesen Zustand wurden von Medizinern Ende des 19. Jahrhunderts aufgezeichnet, als auf dem Land eine Epidemie dieses merkwürdigen Leidens nach der anderen ausbrach: ganze Dörfer erkrankten.

„Früher war der Schluckauf viel weiter verbreitet als heute. In verschiedenen Regionen Russlands traten Epidemien auf“, erklärt Olga Christoforowa, Anthropologin und Volkskundlerin, Professorin an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften und Forscherin an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung, die sich seit langem mit diesem Phänomen beschäftigt, gegenüber Russia Beyond. „Ende des 19. Jahrhunderts gab es zwei große Epidemien in den Provinzen Smolensk und Nowgorod. Im Moskauer Gebiet wurde die letzte Epidemie 1926 in Podolsk verzeichnet. Im Jahr 1970 gab es eine Epidemie im Rajon Pineschski, Region Archangelsk, die zu den letzten im 20. Jahrhundert zählt. Parteimitarbeiter reisten dorthin, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie hielten Vorträge darüber, dass es keine Religion und keine dämonische Besessenheit gebe. Inzwischen waren auch Ärzte und Wissenschaftler dem Phänomen auf der Spur.“

In der russischen Volkskultur wird der Schluckauf jedoch schon seit dem 16. Jahrhundert erwähnt. Menschen, die an diesem Leiden erkrankten, waren überzeugt, Opfer von Hexerei zu sein.

Wie man befallen wird  

Stepanida Wicharewa erinnert sich genau daran, wie sie befallen wurde. Der entscheidende Moment war ihre Weigerung, den Maltonwein zu kosten, den sie einem Mann namens Agej, der ihre Verwandten besuchte, anbot. Das Trinken dieses alkoholischen Getränks in Gegenwart von Erwachsenen, insbesondere eines jungen Mädchens in Gegenwart eines Mannes, war ein Verstoß gegen die gesellschaftlichen und religiösen Normen. Der beleidigte Agej sagte: „Sie wird sich an mich erinnern.“ Bald darauf sah sie eine Schmeißfliege - und von da an wurde sie von Schluckauf-Attacken heimgesucht.

Das Besetztwerden von Schluckauf in Form einer Fliege ist ein häufiges Symbol in Geschichten über die „Besiedlung“. Aber in Wirklichkeit könnte es alles sein, was ein Hexenmeister in seinen Bann gezogen hat, wie Christoforowa erläutert. „Eine Fliege kann verhext worden sein und einer Person einen Schluckauf verpassen. Ebenso möglich wäre eine verzauberte Schnecke, die in Kwas eingelegt wurde, von dem man getrunken hat“, so die Expertin.

Es kann lange dauern, bis sich der Schluckauf manifestiert - nach Aussagen von Frauen, die von Schluckauf betroffen sind, können Jahrzehnte vergehen, bis er sich zu erkennen gibt.

Der Schluckauf spricht immer umgekehrt

Es wird angenommen, dass der Schluckauf in den Menschen „hineinwandert“ und an den inneren Organen „nagt“. Bei manchen „Schluckaufsymptomen“, wie im Fall von Stepanida Wicharewa, beginnt er sogar zu sprechen. 

„Der sprechende Schluckauf ist seine auffälligste Erscheinungsweise. Es kommt zu einem Kehlkopfkrampf, und die Person beginnt wie „umgekehrt“ zu sprechen: Normalerweise sprechen wir beim Ausatmen, aber wenn der Schluckauf sich in einer Person zu Wort meldet, spricht er und atmet dabei die Luft ein. Psychiater nennen das einen sprachmotorischen Paroxysmus“, erklärt Olga Christoforowa. 

Nicht jeder hat einen sprechenden Schluckauf, und das erklärt zum Teil, warum die Vorstellung so verbreitet ist, dass dem Menschen eine Art Wesen - der Schluckauf - eingepflanzt ist. „Viele Menschen glauben, ihr Schluckauf sei stumm. Stummer Schluckauf „wandert“ einfach durch den Körper und verursacht Schmerzen. Theoretisch könnte also jeder denken, dass er einen Schluckauf hat, wenn ihm etwas wehtut“, sagt Christoforowa.

Warum Frauen häufiger erkranken als Männer

Nach altem Glauben kann nur ein Hexenmeister einem Menschen auch den Schluckauf austreiben. Er „bespricht“ zum Beispiel im Badehaus ein Glas Wodka, die oder der „Besessene“ trinkt ihn und es wird ihr heftig übel. „Wenn es sich bei der betroffenen Person um eine Frau handelt, fängt sie an, ihn zu „gebären“ wie ein Kind. Dieses Motiv ist in Erzählungen über den Schluckauf sehr verbreitet. Und es erklärt, warum Frauen häufiger Schluckauf haben als Männer: Der „Dämon“ will herauskommen, er will „geboren“ werden und nicht mit dem Wirt sterben“, fährt Christoforowa fort. 

Wicharewa ist den Schluckauf nie losgeworden. Es gibt heute keine Hoffnung mehr auf Hexenmeister mit den erforderlichen Kräften. Deshalb leben die Menschen mit der Vorstellung, dass der Schluckauf, wenn er sich einmal eingenistet hat, ein Leben lang in einem Menschen bleibt. Forschern zufolge ist es in der Tat so, dass diejenigen, die an einen Schluckauf glauben, keine Motivation mehr haben, ihn loszuwerden.

Gründe für Besessenheit 

Schluckauf ist nicht nur ein psychisches, sondern auch ein komplexes soziokulturelles Phänomen. Er hat sogar völlig gesunde Menschen „befallen“. In erster Linie ist er eine Möglichkeit, den eigenen Unmut oder die eigene Verärgerung in eine gesellschaftlich akzeptable Form zu verpacken. „Man kann nicht sagen: „Iwan Iwanowitsch ist schlecht, er soll weg“. Aber man kann ihn mit hicksender Stimme anklagen, ihn als Magier bloßstellen, ihn einen schlechten Menschen nennen, und wird dafür nicht zur Rechenschaft gezogen. Schließlich spricht man nicht selbst, sondern der Dämon in einem“, erklärt Christoforowa. Diese These wird dadurch untermauert, dass in Russland Frauen, die Schluckauf hatten (wie schrecklich ihre Anfälle auch gewesen sein mögen), straffrei blieben. Diejenigen, die sie der Hexerei beschuldigten, mussten sich dagegen für ihre vermeintliche Tat verantworten. Aber nicht immer sind soziale Vorteile der Grund einer Besessenheit: Oft ist ein Schluckauf rein medizinisch zu erklären. 

Im 21. Jahrhundert besteht Schluckauf als Phänomen in abgelegenen ländlichen Gebieten fort, die stark traditionell geprägt sind. Die Permer Psychiater registrieren ihn weiterhin in der gesamten Region Perm, aber sie sprechen nicht mehr von einer Epidemie. Hier geht es vielmehr um Einzelfälle. Und in der Region Archangelsk, sagt Christoforowa, ist der Schluckauf praktisch verschwunden: „Die Generationen sind im Wandel, die Menschen ziehen in die Städte, und die alten kulturellen Muster werden von den jungen Leuten kaum übernommen. Die Menschen sind gebildeter geworden und die Medizin ist besser.“

>>> Merjátschanje – eine rätselhafte Krankheit der Bewohner des Hohen Nordens

>>> Warum Epidemien im zaristischen Russland zu Aufständen geführt haben