„Das Bewusstsein ist verwirrt, beängstigende Halluzinationen treten auf: Die Patientin sieht den Teufel, eine unheimliche Person oder etwas Ähnliches; sie beginnt zu schreien, zu singen, schlägt rhythmisch den Kopf gegen die Wand oder schüttelt ihn hin und her und reißt sich ihre Haare heraus.“
So beschrieb der sowjetische Arzt Sergej Mitzkewisch Anfang des 20. Jahrhunderts den typischen Anfall einer sehr seltsamen und bis dahin unerforschten Krankheit, an der eine Jakutin erkrankt war. Der Name der Krankheit wurde vom jakutischen Verb mirjátschitj abgeleitet, was so viel wie besessen sein oder auch im Zustand des Wahnsinns bedeutet. Sie wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt, und zwar nur in den Gebieten Nordsibiriens. Die Menschen verfielen scheinbar aus heiterem Himmel dem Wahnsinn. Manchmal einzeln, manchmal in ganzen Gruppen.
Die Symptome waren bei allen Erkrankten ähnlich: Die Person war plötzlich völlig von der realen Welt losgelöst, fast wie in Trance; der Anfall wurde von Krämpfen und Zuckungen begleitet. Der Ethnograf Wacław Sieroszewski beobachtete das intensive körperliche und seelische Leiden dieser Menschen. Er schrieb: „Der Patient jault, schreit, klagt, erzählt wirres Zeug, gerät außer sich, wirf sich von einer Ecke in die andere, als ob er unter Entzug leidet, bis er endlich erschöpft einschläft.“
Während des Anfalls wiederholt eine solche Person impulsiv die Worte und Handlungen ihrer Mitmenschen und führt die von ihnen erteilten Befehle spontan aus, auch wenn es sich um sinnlose oder gefährliche Handlungen handelt. „Wenn jemand vor der kranken Person springt oder sich schlägt, wird die kranke Person dasselbe tun; sie kann einen zerbrechlichen Gegenstand, den sie schätzt, oder sogar ein Kind in ihren Armen wegwerfen, wenn jemand vor ihr irgendetwas wegwirft“, beschrieben die Erforscher das Phänomens. Versucht man jedoch, die Handlungen einer besessenen Person einzuschränken, beginnt sie in der Regel zu randalieren und zeigt dabei eine untypische Stärke.
Einzelne Anfälle konnten zwar als vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit oder als Scherz abgetan werden, aber ein Anfall von beispielsweise 70 Personen lies sich damit nicht erklären. Im Jahr 1870 ereignete sich ein solcher Fall im Kosakenregiment der Militäreinheit Untere Kolyma während einer Übung. Plötzlich begann die gesamte Kompanie, die Befehle des Kommandeurs nachzusprechen, als ob sie ihn nachahmen wollte. Der Kommandeur wurde wütend und verlor die Beherrschung. Zu seiner Überraschung hörte er seine eigenen Drohungen gleich darauf von den Soldaten. Gleichzeitig warfen sie alle ihre Waffen auf den Boden.
Im Jahr 1922 wurde beschlossen, diese Krankheit ernsthaft zu untersuchen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits zahlreiche Nachweise für den „Wahnsinn des Nordens“ angesammelt. Akademiemitglied und Psychiater Wladimir Bechterew begann sich für das Phänomen zu interessieren, nachdem er einen Bericht von dem Arzt und ehemaligen Verbannten Grigorjew (sein Vorname ist unbekannt) aus dem Bezirk Lowosero auf der Halbinsel Kola erhalten hatte. Er beobachtete spontane Ausbrüche der Krankheit unter der lokalen Bevölkerung und stellte fest, dass ähnliche Anfälle zur gleichen Zeit in benachbarten Siedlungen auftraten. Er stellte einen eindeutigen Zusammenhang mit dem Erscheinen von Polarlichtern her – die Krankheit wurde deshalb auch „Ruf des Polarsterns“ genannt. Merjátschanje sei das Ergebnis eines äußeren Einflusses natürlichen Charakters, argumentierte Grigorjew.
Wladimir Bechterew
Public domainBechterew gründete und leitete das Institut für Hirnforschung, das sich neben der Erforschung der Physiologie und der psychischen Aktivität um die wissenschaftliche Untermauerung von Telepathie, Telekinetik und Hypnose bemühte. Er schickte eine Expedition auf die Kola-Halbinsel, die von Alexander Bartschenko, einem bekannten Esoterik-Forscher, geleitet wurde. In der Tat war das Hauptziel dieser Expedition nicht die polare Psychose, sondern die Suche nach den Überresten der mythischen Zivilisation der Hyperboräer (die als Heimat der Arier auch von Nazi-Wissenschaftlern gesucht wurde). Aber der sowjetische Geheimdienst interessierte sich für die Psychose und die Expedition wurde von Felix Dserschinski, dem Vorsitzenden der Tscheka, persönlich unterstützt. Als Bartschenko auf der Halbinsel ankam, verbrachte er zwei Jahre damit, sorgfältig Informationen über die Krankheit zu sammeln – und fiel ihr selbst zum Opfer.
Die Lappland-Expedition von Alexander Bartschenko.
Public domainIm Lowosero-Gebiet verhandelte er mit den örtlichen Schamanen, damit die Expedition die heilige Insel Rogowoj betreten durfte. Nachdem man der Gruppe diesen Wunsch abgeschlagen hatte, begab sie sich dennoch dorthin. Unterwegs, in der Nähe des Sejdosero-Sees, stießen sie auf abgeschlagene rechteckige Granitblöcke, die an Pyramiden erinnerten, auf gepflasterte Straßenabschnitte (man hielt sie für die Überreste einer alten Straße) und schließlich auf eine ungewöhnliche Höhle, die in den Untergrund führte. Der Gruppe gelang es jedoch nie, dorthin zu gelangen. Die Expeditionstteilnehmer erzählten später, alle seien plötzlich grundlos von einem Schrecken erfasst worden und haben gleichzeitig die Kontrolle über sich verloren.
Alexander Bartschenko (oben links) mit der Expedition zur „heiligen“ unterirdischen Höhle Lopar am Lowozero-See, 1922.
Public domainBartschenko erstattete nach seiner Rückkehr Bericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber hinsichtlich der Ursache der Psychose waren keine Schlussfolgerungen gezogen worden. Der Bericht wurde als geheim eingestuft. Moderne Forscher erkundigten sich beim russischen Geheimdienst FSB nach diesem Bericht, erhielten aber die Auskunft, dass alle Unterlagen 1941 vernichtet worden seien, als die Deutschen sich Moskau näherten. Bartschenko selbst wurde beschuldigt, für England spioniert und eine konterrevolutionäre Freimaurerorganisation gegründet zu haben. 1938 wurde er hingerichtet. Auch andere Mitglieder der Gruppe waren in den späten Dreißigerjahren Repressionen ausgesetzt.
Die Menschen im Norden bezeichnen Merjátschanje auch als Schamanenkrankheit, da die massenhafte Besessenheit in vielerlei Hinsicht an den Zustand des Schamanismus während magischer Rituale erinnert. Beide Phänomene werden auf einen eindringenden Geist zurückgeführt, doch während der Schamane den Geist aus freien Stücken herbeiruft und ihm befehlen kann, nimmt der Geist im Falle von Merjátschanje den Menschen angeblich ohne dessen Willen in Besitz.
Die Lappland-Expedition von Alexander Bartschenko.
Public domainAuch Psychiater sehen einen Zusammenhang mit dem Schamanismus, führen ihn aber auf die allgemeine Veranlagung der lokalen Bevölkerung zu psychischen Massenerkrankungen zurück. „Die Anwesenheit einer großen Zahl hochsuggestiver Personen schuf in den traditionellen Gesellschaften des Nordens und Sibiriens ein besonderes psychologisches Klima, das zur sozialen Bedeutung des Schamanismus beitrug. Es war kein Zufall, dass der Tod eines Schamanen den Ausbruch psychogener Erkrankungen auslöste. <...> Die Epidemien hörten auf, nachdem einer der Erkrankten zum Schamanen wurde. Das Universum, das durch den Tod eines Schamanen gestört war, wurde wiederhergestellt“, behaupten die Wissenschaftler.
Ein Schamane, um 1900er Jahre
В. Soldatov / Union of Russian PhotographersDas spezifische psychologische Klima ist nach Ansicht der Wissenschaftler jedoch nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Lowosero liegt in der Mitte der Kola-Halbinsel. Es ist umgeben von Tundra, sumpfiger Taiga und an einigen Stellen von Hügeln. Die meiste Zeit des Jahres ist es hier Winter. Die Polarnacht, in der die Sonne nicht am Himmel erscheint, dauert einen Monat. Der Polartag, an dem die Sonne nicht untergeht, dauert 52 Tage. All dies wirkt sich auf das Nervensystem aus und beeinträchtigt die Gesundheit. Pawel Jakobi, Psychiater und Ethnograph, schrieb ebenfalls darüber: Eine psychische Epidemie „entwickelt sich nur in einer Bevölkerung, die körperlich, moralisch, geistig und nervlich geschwächt ist.“
Nordlichter
Bettmann/Getty ImagesDer Ethnograph Wassilij Anutschij erinnerte an das anschauliche Beispiel für politische Verbannung in der Region Turuchansk (ein Gebiet in Ostsibirien), die nach der ersten russischen Revolution von 1905 weit verbreitet war. Die Verbannten klagten über Schlaflosigkeit, Migräne, Herzbeschwerden, visuelle und akustische Halluzinationen und Reizbarkeit. „Von 112 Personen, die damals in die Region Turuchansk verbannt wurden, wurden sechs bereits ein Jahr später in die psychiatrische Klinik von Tomsk eingewiesen“, schrieb Anutschij und wies darauf hin, dass die Verbannung dorthin von der zaristischen Regierung schließlich aufgehoben wurde, da sie sie für „zu grausam" hielt“ (zu Sowjetzeiten wurde die Verbannung dorthin wieder aufgenommen).
Ausbrüche von Psychosen während des Polarlichts könnten auch mit der besonderen Reaktion des Körpers auf Störungen in der Magnetosphäre zusammenhängen (das hellste Polarlicht tritt während geomagnetischer Stürme auf). Es ist kein Zufall, dass die Schamanen des Nordens die Durchführung von Ritualen und Mysterien an diese Zeit anpassen. Das Flackern wurde also höchstwahrscheinlich durch klimatische, soziologische Alltags- sowie physisch-geografische Bedingungen gleichzeitig verursacht. Nicht nur die Einheimischen, sondern auch Neuankömmlinge, die lange Zeit im Norden blieben, erkrankten daran.
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