Dieses Gericht kann buchstäblich jeden umbringen, der nicht aus dem russischen Norden stammt

Russia Beyond (Foto: Kenneth Konkle/flickr.com; Legion Media)
Die Speise gilt als nordische Delikatesse, kann aber einen Uneingeweihten innerhalb von 24 Stunden töten. Ein solcher Fall ereignete vor über fünfzig Jahren.

Vielen Menschen erscheint die traditionelle Küche der nördlichen Völker Russlands als extrem. Nicht jeder traut sich, warmes Rentierblut, dicke Blutsuppe oder Kanyga – den teilweise verdauten Inhalt eines Rentiermagens – zu kosten. Und die Nachspeisen? Ja, auch diese sind gewöhnungsbedürftig. Eiscreme im Hohen Norden wird aus Walross- oder Robbenfett hergestellt, allerdings mit Beeren „verfeinert“.

Die seltsamste und gefährlichste Delikatesse des Nordens ist jedoch Kopalchen (auch Kopalhem oder Kymgut genannt). Sie kann jeden buchstäblich umbringen, der nicht seit seiner Kindheit daran gewöhnt ist.

Erbrechen, Bewusstlosigkeit, Leberschmerzen

In den Siebzigerjahren war eine kleine Forschungsexpedition mit einem Hubschrauber vom Typ Mi-8 unterwegs und stürzte mitten auf der Taimyr-Halbinsel ab. Die zwei Piloten, drei Topographen und ihr einheimischer Führer aus dem Volk der Nenzen, Sawelij Peresol, waren mitten in der Septembertundra ohne Kommunikation, warme Kleidung und Nahrung auf sich allein gelassen. Es vergingen mehrere Tage, aber es kam keine Hilfe. 

Die Gruppe aß, was sie an Essbaren finden konnten: Lemminge und Mäuse, Pilze und Preiselbeeren. Die Nächte waren bereits kalt. Sie befürchteten, nicht mehr länger durchhalten zu können und beschlossen, etwas zu unternehmen. In dieser Situation schlug Sawelij vor, im Sumpf nach nahrhaftem Proviant zu suchen – um sich zu stärken und Verpflegung für den Fußmarsch zum nächstgelegenen Dorf Chatanga zu haben.

Der Führer sprach von Kopalchen, einem großen, fetten Hirschkadaver, den die Nenzen für den Winter in den Sümpfen vergraben und die Stelle markieren. Das Fleisch zersetzt sich ein halbes Jahr lang und kann dann ausgegraben  und gegessen werden. Solche „Notreserven“ sind oft die Rettung für  Einheimische, die sich in der Tundra verirren: Wenn man ein  Kopalchen findet, kann man es mitnehmen, ist aber verpflichtet, einen Ersatz vor Ort zu schaffen. Sawelij fand tatsächlich ein Kopalchen. Die Expeditionsmitglieder aßen es nur widerwillig, weil ihnen der merkwürdige Geruch missfiel. 

Am Morgen spürten sie die Wirkung der „Delikatesse“: Erbrechen, Bewusstlosigkeit, Leberschmerzen. Nur der Nenze fühlte sich wohl. Nachdem sie vierundzwanzig Stunden lang gelitten hatten, starben am darauffolgenden Morgen die beiden Piloten und einer der Topologen, die beiden anderen hatten das Bewusstsein verloren. Genau in diesem Moment traf der Hubschrauber mit der Rettungsmannschaft ein. Einer der beiden Vermessungsingenieur konnte gerettet werden, bei dem anderen kam jede Hilfe zu spät und er starb noch in der Nacht. Sawelij wurde später wegen „fahrlässiger Tötung durch Vergiftung“ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Der hungrige Hirsch aus dem Sumpf

Der Fall wurde in den Erzählungen eines Gerichtsmediziners, des Militärarztes Andrej Lomatschinskij, beschrieben. Bis dahin war das Kopalchen kaum jemandem bekannt, meist nur denjenigen, die mit indigenen Völkern des Nordens zusammengelebt hatten. Der Nenze Sawelij Peresol war sich nicht bewusst, dass die traditionelle Delikatesse gefährlich sein könnte. Wie war das möglich, wo doch in seiner Heimat Kopalchen sogar von kleinen Kindern gegessen wird? 

Kopalchen ist das fermentierte Fleisch eines ordnungsgemäß geschlachteten Tieres. Wenn das Kopalchen aus einem Hirsch zubereitet wird, wählt man dazu das stärkste und am besten genährte Tier aus. Zunächst lässt man es mehrere Tage lang hungern. Auf diese Weise wird der Magen des Hirschs vollständig geleert. Anschließend wird das Tier geschlachtet – dazu wird es stranguliert, damit die Haut nicht verletzt wird und keine offenen Wunden zurückbleiben. Nach der Tötung wird der Kadaver des Tiers im Moor versenkt, mit Torf bestreut und markiert, um später gefunden werden zu können.

Das Fleisch wird den ganzen Winter über im Wasser fermentiert. Während dieser Zeit beginnt er sich zu zersetzen, es bilden sich Mikroorganismen, die seine Zusammensetzung allmählich verändern und es mit Vitaminen anreichern. Gleichzeitig werden aber auch die Giftstoffe Cadaverin, Putrescin und Neurin freigesetzt. Neurin wirkt auf den Körper ähnlich wie jene Organophosphate, die als Kampfgifte eingesetzt wurden, d. h. es verursacht starken Speichelfluss, Erbrechen, Durchfall, Krampfanfälle und führt in den meisten Fällen zum Tod. Wer daran gewöhnt ist, wird von Kopalchen jedoch nicht getötet. Und man kann sich tatsächlich daran gewöhnen.

Wer isst es, wie und warum?

„Es ist ganz offensichtlich, dass Kopalchen viele Nährstoffe und Spurenelemente enthält, die der Körper braucht. Anders ist es schwer zu erklären, warum ein kleines Stück Kopalchen für einen Fischfänger ausreicht, um einen ganzen Tag im eisigen Wasser des Arktischen Ozeans zu verbringen, ohne Hunger oder Energieverlust zu erleiden“, schrieb Juri Rytcheú in seinem Essay über die Tschukotka-Halbinsel.

Nenzen-Männer teilen sich frisches rohes Rentierfleisch in ihrem Lager, etwa 200 km von Salechard, Russland entfernt.

Kopalchen ist das Nationalgericht der Nenzen, Tschuktschen, Chanten, Eskimos (Yupik), Ewenken und Ngasanen. Ihre extrem harten Lebensbedingungen haben eine originelle Delikatesse hervorgebracht, die jahrelang im Sumpf oder auf dem Eis konserviert werden kann und dabei trotzdem sehr kalorienreich und gesund ist. Und um sicherzugehen, dass es nicht zum Tod führt, wird das rohe, fermentierte Fleisch bereits an Kinder verfüttert. Der Organismus der Nordländer entwickelt eine Immunität gegen die Giftstoffe. Außerdem hat die Bevölkerung der arktischen Küstenregion ein völlig anderes Säureniveau im Magen (eine solches Niveau würde bei einem Europäer unweigerlich zu Gastritis und Magengeschwüren führen), das die Larven von Trichinellen (Würmern) abtötet. Wenn ein Auswärtiger Kopalchen probiert und nicht an einer Vergiftung stirbt, wird er zumindest an Trichinellose erkranken.

Ein Rentierhirte beim Essen in einem Kumpel im Dorf Gornoknjasewsk, Bezirk Priuralski.

Eine ganze Familie kann sich wochenlang oder sogar über einen ganzen  Monat hinweg von einem einzigen Kopalchen ernähren, was bei extremen Winterbedingungen von großem Vorteil ist. Das gefrorene Fleisch wird in dünne Scheiben geschnitten, die zu Röhren gerollt und in Salz getaucht werden. Dazu gibt es rohe Lunge von einem frisch geschlachteten Rentier und eine kleines Stück Junéw  (ein Konzentrat aus fermentierten Blättern der Tundrapflanze Rosenwurz).

Die nordische Delikatesse schmeckt wie bitterer, ungesalzener Speck. Es gibt einen weiteren Vergleich: Laut Rytcheú hat „echtes, gut gereiftes Kopalchen ein rosafarbenes Aussehen am Schnitt, das am Fettrand in  Grün übergeht; es schmeckt ein wenig scharf, wie gut gereifter französischer Schimmelkäse“.

Welche Arten Kopalchen gibt es sonst noch?

Die Eskimos und Tschuktschen bereiten es auch aus Walrossen, Robben und Walen zu  (Hirsche werden eher von den Nenzen verwendet). 

Das Walross, zum Beispiel, wird im Spätherbst, bevor das Treibeis an die Küste kommt, am Sammelplatz der Tiere geschlachtet. Die Haut wird in großen Stücken abgezogen, zusammen mit einer Schicht aus Fett und Fleisch. Jedes Stück wird auf der Innenseite mit einer Mischung aus Kräutern und Flechten bestreut und dann mit einem Seil aus der gleichen Haut zusammengenäht und aufgerollt. Manchmal werden auch Stücke von Leber, Herz und Nieren hineingelegt. All dies wird in speziellen Gruben untergebracht, deren Wände mit Steinen ummantelt sind. Die Gruben werden im Permafrostboden angelegt, wo der Kadaver nicht verdirbt und langsam fermentiert.

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