Geschichte der Juden in Russland (TEIL 1)

Geschichte
ALEXANDRA GUSEWA
Warum wurde die russische Revolution von 1917 als jüdisch angesehen und wie sah das Leben der Juden in der Sowjetunion aus?

Trotz seiner geografischen Entfernung zu Israel ist Russland fast seit seinen Anfängen mit den Juden verbunden. Als Fürst Wladimir im 10. Jahrhundert einen Glauben für sein Volk wählte, zog er unter anderem das Judentum in Betracht. Allein diese Tatsache zeigt, dass die Russen schon damals enge Kontakte zu den Juden pflegten.

Wie in der Nestorchronik beschrieben, irritierte Wladimir in der Darstellung der Juden u.a. die Tatsache, dass diese aus ihrem Land Israel vertrieben wurden und sich in der Fremde verstreut ansiedelten. In der Nähe der Rus lebte das alte Volk der Chasaren, dessen Oberschicht das Judentum angenommen hatte. Mit dieser Tatsache ist sogar die Hypothese verbunden, dass alle europäischen aschkenasischen Juden nicht von den israelischen Vorfahren abstammen, sondern von bekennenden jüdischen halbnomadischen Turkvölkern aus dem Khanat der Chasaren, die nach dem Zusammenbruch dieses Staates im 10. Jahrhundert nach Europa flohen. Diese Theorie wird jedoch von vielen israelischen Historikern widerlegt.

Juden in der alten Rus

Nach der Vertreibung der Juden aus vielen europäischen Staaten im 14. Jahrhundert siedelten sie sich in Polen und Litauen sowie in der heutigen Ukraine und Weißrussland (Nachbarländer der damaligen Rus) an. Aber sie durften sich lange Zeit nicht auf russischem Boden niederlassen.

Iwan der Schreckliche war besonders streng und verbot den Juden die Einreise ins Land. Dies war vor allem auf die religiöse Ablehnung von Menschen anderen Glaubens zurückzuführen. Die einzige Möglichkeit, nach Russland zu gelangen, war der Übertritt zur Orthodoxie. Dann durften sich ehemalige Juden in Russland niederlassen, wofür man sie sogar mit Geld belohnte.

Juden im Russischen Reich

Während der Herrschaft Peters des Großen änderte sich die Einstellung gegenüber den Juden. Der Zar, der alles Fremde und Ausländische verehrte, versammelte sogar einige polnische Juden in seiner Nähe und verlieh ihnen wichtige Regierungsämter. Baron Peter Schafirow zum Beispiel war ein wichtiger Diplomat (der auch mit dem polnischen König verkehrte) und Leiter der gesamten russischen Post.

Unmittelbar nach Peters Tod kehrte jedoch die ablehnende Haltung gegenüber den Juden zurück. Die Zarenwitwe und die neue Zarin Katharina I. vertrieben sie aus dem Land. Peters Tochter Elisabeth setzte diese Politik fort. Obwohl der Senat sie überredete, jüdische Händler zumindest vorübergehend zu den Messen zuzulassen, enthielt ihr Dekret über die „Ausweisung der Juden“ den folgenden Satz: „Von den Feinden Christi wünsche ich keine interessanten Gewinne“.

Eine nennenswerte jüdische Bevölkerung in Russland entstand Ende des 18. Jahrhunderts, als das Reich Teile Polens (wo eine bedeutende Anzahl aschkenasischer Juden lebte) und die Krim umfasste, wo Krimjuden - Krimtschaken und Karäer (lokale Völker, die das Judentum annahmen) - seit der Antike ansässig gewesen waren. Für eine kurze Zeit erlaubte Katharina II. unternehmungslustigen polnischen Juden, auch in anderen Städten zu leben, Handel, Handwerk und Geldverleih zu betreiben.

Doch schon bald löste die Nähe selbst einer kleinen jüdischen Bevölkerung bei den Russen extreme Ressentiments aus. Die Juden wollten sich nicht assimilieren, waren sehr religiös (das praktizierte Judentum machte den Orthodoxen Angst) und verärgerten ihre „Konkurrenten“ durch ihren beispiellosen Erfolg im Handel. Die Juden wurden als Ausbeuter von Lohnarbeit angeklagt und für die Misere aller anderen verantwortlich gemacht.

Die „Ansiedlungsrayons“

Im Jahr 1791 erließ Katharina II. ein Dekret, wonach Juden nur in einem bestimmten Gebiet im Südwesten des Reiches leben durften, wo sie siedelten, als es Teil des Russischen Reiches wurde. Dies waren die Gebiete des heutigen Polens, Litauens, Lettlands, Weißrusslands, der Ukraine und Moldawiens.

Dieses Gebiet wurde als der „Ansiedlungsrayon“ bezeichnet. Ein großer Teil der Juden sprach Jiddisch und lebte in „Schtetl“ - Städten für „Kleinbürger“, also die Handels- und Handwerksklasse. So prägte das Schtetl Brody in Polen (heute in der Ukraine) viele jüdische Familiennamen - Brodsky (auch der große russische Dichter Joseph Brodsky trägt diesen Namen).

Ende des 19. Jahrhunderts lebten in Russland etwa fünf Millionen Juden, sie waren das  fünftgrößte Volk des Landes. Fast alle von ihnen lebten außerhalb des Ansiedlungsrayons und waren in ihren Rechten eingeschränkt. Zugleich hatten die Juden eine hohe Geburtenrate und relativ gute Lebensbedingungen. Lebten im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts im Russischen Reich etwa die Hälfte der gesamten jüdischen Weltbevölkerung, so erreichte diese Zahl Ende des 19. Jahrhunderts in Russland 80 % (solche Zahlen nennt der israelische Historiker Shlomo Sand in seinem Buch).

Es war möglich, aber sehr schwierig, aus dem Ansiedlungsrayon herauszukommen. Man musste Kaufmann der ersten Zunft werden, eine höhere Ausbildung erhalten, in der Armee dienen oder einem bestimmten Handwerksbetrieb zugewiesen werden. Nach und nach wuchs die Liste der Berufe, die sich außerhalb dieses Gebiets niederlassen durften (Ärzte, Apotheker). Gleichzeitig wurde ihre Zulassung zu Schulen und Bildungseinrichtungen erschwert.

Für Buchara- und Bergjuden, die im Kaukasus und in Zentralasien lebten, also in Gebieten, die erst nach der Entstehung der „Ansiedlungsrayons“ an das Reich angegliedert wurden, waren die Regeln etwas milder.

In Moskau durften sich Juden lange Zeit nur an einem bestimmten Ort niederlassen (dem Glebowski-Vorort, wo Ende des 19. Jahrhunderts die erste Synagoge entstand).

Gleichzeitig wurden Juden, die zum Christentum konvertierten, alle Rechte gewährt, die auch anderen Bürgern zustanden.

Liberalisierung und Verschärfung der Judenfrage

Die Politik der Obrigkeit gegenüber den Juden änderte sich mehrmals. Unter Alexander I. wurde sie liberalisiert, und die Juden der neu erworbenen Gebiete wurden sogar von der Wehrpflicht befreit. Er lockerte auch die Gesetze ein wenig. So erlaubte er den Gemeinden, außerhalb des Ansiedlungsrayons Synagogen zu bauen. Diese schossen darauf in vielen Städten wie Pilze aus dem Boden, darunter in Zentralrussland, Moskau und St. Petersburg, aber auch in Sibirien, wo viele Verbannte und ehemalige Sträflinge lebten.

Bereits im späten 19. Jahrhundert begannen die Juden, sich aktiv in das kulturelle Leben des Landes zu integrieren, und viele berühmte Künstler, Musiker und andere prominente Persönlichkeiten waren Juden. Der Maler Isaak Lewitan zum Beispiel besuchte die Moskauer Schule für Malerei, Bildhauerei und Architektur - und wurde für sein Talent sogar von den Studiengebühren befreit. Infolgedessen war es Lewitan, der in der realistischen russischen Landschaftsmalerei unglaubliche Erfolge erzielte. 

Auch der Bildhauer Mark Antokolski und etwa der Pianist Anton Rubinstein wurden weithin berühmt. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatten es bereits Dutzende von Namen, darunter der Künstler Marc Chagall und die Tänzerin Ida Rubinstein, zu internationaler Bekanntheit gebracht. Später im 20. Jahrhundert bildete sich ein ganzes Fünfgestirn jüdischer Schriftsteller am Literatenhimmel heraus - Isaak Babel, Ilja Ilf, Ossip Mandelstam, Wassili Grossman, Joseph Brodsky. Sie alle waren Vertreter der russischen Kultur, aber der aus einem ukrainischen Dorf stammende Schriftsteller Shalom Aleichem wurde zum Beispiel der Begründer der jiddischen Literatur. Alissa Rosenbaum, besser bekannt als Ayn Rand, amerikanische Schriftstellerin und Autorin des Romans „Atlas Shrugged“ (deutsch: „Atlas wirft die Welt ab“), stammte übrigens aus der Familie eines jüdischen Apothekers aus St. Petersburg.

Zur gleichen Zeit gab es bereits viele Juden unter der revolutionär gesinnten Jugend, auch in der Organisation „Narodnaja Wolja“, die hinter dem Attentat auf Alexander II. im Jahr 1881 stand.

Die Politik seines Sohnes Alexander III. gegenüber den Juden wurde zunehmend restriktiver, und es kam zu Judenpogromen, bei denen die Behörden praktisch ein Auge zudrückten. Der Zar selbst hatte den Ruf, persönlich antisemitisch eingestellt zu sein. Einige bereits errichtete Synagogen wurden geschlossen, der Bau neuer Synagogen untersagt. Wieder einmal nahm die Bedeutung des Ansiedlungsrayons zu.

Die Politik gegenüber den Juden wurde auch von Nikolaus II., der 1894 den Thron bestieg, nicht gelockert. Wegen der Zunahme an Pogromen begannen die Juden massenhaft auszuwandern. So verließ Golda Meir, die einzige spätere Ministerpräsidentin Israels und eine der Gründerinnen des Staates Israel, 1903 mit ihren Eltern das Russische Reich. Sie stammte aus Kiew, und ihrem Vater wurde sogar das Recht zugestanden, sich außerhalb des Ansiedlungsrayons niederzulassen.

>>> Geschichte der Juden in Russland (TEIL 2)

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