Auf das Konto des sowjetischen Scharfschützen Wassilij Sajzew gehen 242 vernichtete Soldaten und Offiziere des Feindes. Er gehört nicht zu den effektivsten Scharfschützen des Zweiten Weltkriegs, aber er ist definitiv der berühmteste Scharfschütze der Schlacht von Stalingrad (23. Aug. 1942 - 2. Feb. 1943).
Ein Naturtalent
Wassilij Sajzew lernte schon als Kind, genau zu schießen. Sein Großvater war ein erfahrener Jäger und nahm seinen Enkel oft mit in die Taiga des Urals.
Den Krieg erlebte Sajzew jedoch nicht in einem Zug von Scharfschützen, sondern am Pazifischen Ozean. Da er gut ausgebildet war, diente er in der Finanz- und Wirtschaftsabteilung des Hauptquartiers einer der Militäreinheiten der Flotte.
Viele Matrosen waren begierig darauf, an die Front zu gehen, und Sajzew war da keine Ausnahme. Im September 1942 fand er sich in Stalingrad als Mitglied der 284. Schützendivision der 62. Armee von Generalleutnant Wassilij Tschujkow wieder. Zunächst nahm er als einfacher Infanterist an den Straßenkämpfen teil.
Sein Talent als Scharfschütze wurde jedoch bald bemerkt. Eine Gruppe von Kämpfern war in Position, als zwei Deutsche vor ihnen auftauchten. „Ich hob mein Gewehr und gab, fast ohne zu zielen, einen Schuss ab. Der Fritz fiel zu Boden. Ein paar Sekunden später tauchte dort ein zweiter auf. Auch den zweiten habe ich niedergeschossen“, erinnerte sich Sajzew.
Der Regimentskommandeur, der Zeuge dieser Szene war, befahl sofort, Sajzew ein Scharfschützengewehr mit Zielfernrohr zu geben.
Der Meisterschütze
Sajzew wurde schnell zu einem der besten Scharfschützen in Stalingrad. Er verbesserte ständig seine Fähigkeiten, studierte die Taktiken des Feindes und entwickelte seine eigenen Regeln.
Er war bestrebt, nicht bei Sonnenuntergang eingesetzt zu werden – die Sonne, die kurz über dem Horizont stand, konnte sich in der Optik des Zielfernrohrs spiegeln und den Schützen verraten. Die Morgensonne beleuchtete die Ferngläser der deutschen Offiziere, die Feuerleiteinrichtungen und die Zielfernrohre der feindlichen Scharfschützen.
„Nehmen wir an, im Morgengrauen leuchtet irgendwo ein Feuerzeug auf – der Scharfschütze hat sich eine Zigarette angezündet. Zielen Sie auf diese Stelle und warten Sie: eine Wolke aus Tabakrauch sollte erscheinen. Es wird noch etwas Zeit vergehen, vielleicht auch der ganze Tag, aber für einen Sekundenbruchteil wird der Helm erscheinen. Den darfst du nicht verpassen!“, erklärte der Scharfschütze.
Häschen
Der talentierte Schütze bildete selbst andere Scharfschützen aus, die inoffiziell den
Spitznamen Häschen trugen (Sajzews Nachname ist von dem Wort Hase abgeleitet). Ihre Zahl wird auf drei Dutzend geschätzt.
Er brachte ihnen bei, nach zwei oder drei Schüssen ihre Position zu wechseln, sich sorgfältig zu tarnen und Attrappen zu platzieren, um den Feind in die Irre zu führen (z.B. eine Schaufensterpuppe in einer Soldatenuniform). Das Wichtigste, was Sajzew verlangte, war, über den Tellerrand zu schauen und zu improvisieren.
Sajzew entwickelte eine Taktik der Gruppenjagd durch Schesterkí (dt.: Handlanger), die er erfolgreich bei seinen Schülern einsetzte. Sie bestand darin, dass ein und dieselbe Zone aus verschiedenen Richtungen effektiv durch drei Paare Scharfschützen (Schütze plus Beobachter) abgedeckt wurde.
Tschujkow lernte viele Scharfschützen seiner Armee persönlich kennen. Er erinnerte sich an sein Treffen mit Sajzew und seinem Schüler Wiktor Medwedjew wie folgt: „Als ich Sajzew und Medwedjew zum ersten Mal traf, war ich beeindruckt von ihrer Bescheidenheit, ihren gemächlichen Bewegungen, ihrem außergewöhnlich ruhigen Charakter und ihrem aufmerksamen Blick; sie konnten lange auf einen Punkt schauen, ohne zu blinzeln. Ihre Hände waren fest: Beim Händeschütteln drückten sie die Handflächen wie Zangen zusammen.“
Ein Scharfschützenjäger
Während der Kämpfe um Stalingrad schaltete Wassilij Sajzew elf feindliche Scharfschützen aus. „Ich hatte bereits gelernt, die Handschrift der faschistischen Scharfschützen schnell zu entschlüsseln, durch die Art des Feuers und der Tarnung ohne große Schwierigkeiten erfahrenere Schützen von Anfängern und Feiglinge von hartnäckigen und entschlossenen zu unterscheiden“, erinnerte er sich.
Besonders berühmt wurde das Duell zwischen Sajzew und dem deutschen Major Erwin König, der nach Stalingrad beordert wurde, um die Häschen und natürlich den Haupt-Hasen zu vernichten. Die Konfrontation zwischen den beiden Meistern wurde 2001 in dem Film Duell – Enemy at the Gates dargestellt.
Die Identität von Major König wirft unter Forschern Fragen auf. Einer Version zufolge konnte sich der Leiter der Scharfschützenschule in Zossen, SS-Standartenführer Heinz Thorwald, unter diesem Namen verbergen.
König-Torwald gelang es, mehrere sowjetische Scharfschützen auszuschalten, woraufhin er in einen Kampf mit Sajzew geriet. Dem Beobachter Nikolai Kulikow gelang es, den Deutschen herauszulocken.
„Kulikow begann vorsichtig, wie es nur der erfahrenste Scharfschütze tun kann, seinen Helm zu heben“, erinnert sich Sajzew. „Der Nazi feuerte einen Schuss ab. Kulikow hob kurz den Helm, schrie laut auf und fiel zu Boden... Endlich ist der sowjetische Scharfschütze, der Haupthase, den ich seit vier Tagen gejagt habe, tot!, dachte wohl der Deutsche und streckte den halben Kopf hinter seinem Schutzschild hervor – ich schlug zu. Der Kopf des Faschisten senkte sich, und das Zielfernrohr seines Gewehrs glitzerte noch in der Sonne.“
Sobald es dunkel wurde, führten die sowjetischen Truppen in diesem Abschnitt einen Nachtangriff durch. Mitten im Gefecht zogen Sajzew und sein Partner den toten Major unter dem Schutzschild hervor, holten seine Dokumente heraus und übergaben sie dem Divisionskommandeur.
Held der Sowjetunion
Im Januar 1943 wurde Sajzew schwer verwundet und verlor vorübergehend sein Augenlicht. Das Sehvermögen wurde ihm in Moskau wiedergegeben, wohin Sajzew umgehend transportiert worden war.
Am 22. Februar desselben Jahres wurde Unterleutnant Wassilij Sajzew für Mut und militärische Tapferkeit mit dem Titel Held der Sowjetunion ausgezeichnet.
Nach seiner Genesung kehrte er in die Armee zurück, nahm an Gefechten teil, bereitete neue Häschen vor und schrieb zwei Lehrbücher über die Scharfschützenkunst. Den Sieg erlebte er in einem Krankenhaus in Kiew.
Sajzew beschloss, in der Hauptstadt der sowjetischen Ukraine zu bleiben und arbeitete hier viele Jahre lang in leitenden Positionen in der Leichtindustrie. Er starb am 15. Dezember 1991, ein paar Tage vor dem Zusammenbruch der UdSSR.
Der berühmte Scharfschütze wollte sich in Wolgograd (wie Stalingrad seit 1961 genannt wird) begraben lassen. Sein Grab befand sich jedoch viele Jahre lang in Kiew. Erst 2006 wurden seine sterblichen Überreste feierlich auf den Mamajew Kurgan umgebettet – dem Ort der erbitterten Kämpfe, an dem heute 35.000 Verteidiger der Stadt beerdigt sind.