Larisa Andrejewas langer und gepflegter Finger verfolgt den Text Seite für Seite ohne Pause. Sie hat einen seltenen Beruf, sie ist Souffleuse am Maly-Theater in Moskau.
Wie stellen Sie sich eine Souffleuse vor? Jemand, der halb unter der Bühne sitzt, nur der Kopf ragt heraus, der vor den Zuschauern durch eine Abdeckung verborgen bleibt?
„Das ist eine staubige Angelegenheit und ich reagiere allergisch auf Staub. Schon nach kurzer Zeit muss ich darin husten und niesen. Einmal hat mir sogar ein Zuschauer ‚Gesundheit’ gewünscht. Ich werde verrückt darin”, erzählt Larisa Andrejewa. Daher sitzt sie schon lange nicht mehr unter der Bühne, sondern rechts oder links davon in den Kulissen an einem kleinen Tisch mit einer Lampe. Auf dem Tisch steht auch eine Tasse Tee, denn oft ist Andrejewas Hals trocken.
Heute ist sie anderthalb Stunden vor Vorstellungsbeginn gekommen. Es wird der „Kirschgarten” aufgeführt. Dieses Stück kennt die Souffleuse sehr gut, es steht schon lange auf dem Spielplan und sie muss sich nicht besonders darauf vorbereiten. Andrejewa war von Anfang an bei den Proben dabei, Sie weiß genau, wann es Redepausen gibt und auch sie still sein muss.
Larisa wurde eher zufällig Souffleuse. In ihrer Jugend war sie Schauspielerin an einem Theater in Kurgan. Doch einmal war eine der Souffleusen dort krank und die junge Darstellerin sprang für sie ein: „Es könnte im Leben noch einmal nützlich sein”, dachte sie und wurde so zur Teilzeit-Souffleuse. Während ihrer Zeit in Kurgan spielte Larisa Andrejewa viele Rollen und wurde eine verdiente Künstlerin Russlands.
2003 zog sie nach Moskau und suchte dort eine neue Beschäftigung. Am Maly-Theater wurde damals eine Souffleuse gesucht. Das war ihre Chance, auch wenn es ihr zunächst schwer fiel, nicht mehr auf der Bühne zu stehen und die Schauspielerei aufzugeben. Sie spricht nicht gerne über diese Zeit. „Aber die Zeit heilt alle Wunden und inzwischen würde ich nicht mehr auf die Bühne zurückkehren, selbst wenn man mich fragen würde”, sagt sie.
„Mein Beruf stirbt nicht aus, er ist bereits tot”, sagt Andrejewa. Das Maly-Theater ist eines der beiden übrig gebliebenen Drama-Theaterbühnen, die noch eine Souffleuse beschäftigen. Auf anderen Bühnen müssen die Schauspieler selbst sehen, wie sie zurechtkommen. In Opernhäusern wie dem Bolschoi sind Souffleure dagegen weiterhin gefragt.
Die Kunst des Soufflierens kann man in Russland nicht an Schulen lernen. Man benötigt vor allem Intuition. Am Maly-Theater kann man sich bewerben. Vor kurzem hat Larisa eine neue junge Kollegin bekommen. Larisa hält sie für talentiert. Das Maly-Theater beschäftigt zurzeit fünf Souffleure und Souffleusen.
Natürlich könnten die Schauspieler auch mit Kopfhörern oder anderen Techniken arbeiten, doch Larisa weiß, dass die Souffleure für die Schauspieler eine wichtige psychologische Unterstützung sind. „Im Maly weiß jeder, dass er sich auf den Souffleur verlassen kann. Bei Tourneen wird immer vorher gefragt, ob ich rechts oder links von der Bühne sitzen werde.” Eine neue Bühne, andere Akustik – die Souffleure sind die sichere Bank der Schauspieler.
Der Text der Souffleure sieht aus wie eine komplexe Partitur. Er ist voller Zeichen, die nur ein Fachmann versteht. An einigen Stellen ist ein Teil des Textes durchgestrichen - der Regisseur hat beschlossen, diesen Teil zu kürzen. An anderen Stellen ist eine Phrase unterstrichen - ein Schauspieler vergisst sie immer wieder. Ein Ausrufezeichen - diesem Moment in der Aufführung muss man besondere Aufmerksamkeit schenken. Ein Häkchen - der Schauspieler macht hier eine Pause. Drei Zacken - eine lange Pause.
Die Schauspieler müssen sich nicht erst nach Larisa umdrehen, um Hilfe zu bekommen. Sie weiß, wann ihr Einsatz gefragt ist.
Das russische Wort „sufljor” kommt vom französischen „souffler“ und bedeutet „atmen" oder „einflüstern". Der Souffleur haucht dem Schauspieler gewissermaßen die richtigen Worte ins Ohr. Für den Zuschauer bleibt das unbemerkt. Manchmal gibt Larisa auch Handzeichen und bedeutet damit dem Darsteller etwas nach rechts oder links zu gehen oder etwas wegzulegen. Die Schauspieler verstehen diese Zeichen.
Zum Schluss erzählt Larisa noch einen Witz über Souffleure: Es ist Premiere. Zunächst sagt der Schauspieler noch, er bräuchte keine Hilfe, er wisse alles. Dann meldet er sich und bittet den Souffleur, ein Auge auf ihn zu haben. Bald darauf meldet er sich wieder und fragt nach einer bestimmten Textpassage. Und schließlich bittet er, jedes Wort vorzusagen.
Larisa findet es nicht langweilig, Tag für Tag das gleiche Skript zu wiederholen. Keine Aufführung gleicht der anderen, es passiert immer etwas neues. Manchmal wundert sich Larisa auch, dass die Schauspieler eine Figur neu interpretieren oder sie emotional nuancieren.
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