„Oben, unten, links, rechts“, befahl der Offizier des Missionskontrollzentrums, als sich das Sojus-MS-19-Raumschiff dem russischen Segment der ISS näherte. „Tu das, wofür du ausgebildet wurdest. Das wird schon“, sagte er in ruhigem Ton.
Der Moment des Andockens an die Station war jedoch ziemlich nervenaufreibend. Aufgrund eines Systemfehlers konnte das Raumfahrzeug nicht automatisch festmachen, so dass der Testpilot und Kosmonaut Anton Schkaplerow das Raumfahrzeug manuell andocken musste. Unterstützt wurde er von der 37-jährigen Schauspielerin Julia Peressild, die bis vor drei Monaten nichts mit dem Weltraum zu tun hatte.
Sie ist Mitglied der allerersten „Filmcrew“ im Weltraum und wurde dafür ausgewählt, mit dem Regisseur Klim Schipenko zu fliegen, um den ersten abendfüllenden Film der Welt im Weltraum zu drehen. Am 5. Oktober gelangte sie zur ISS und übertrumpfte damit ihren Schauspielkollegen Tom Cruise, der ebenfalls solche Pläne hat.
„Ich habe immer noch das Gefühl, zu träumen“, sagte Peressild nach ihrem Aufenthalt auf der ISS. „Ich kann kaum glauben, dass dies alles wahr geworden ist.“
Im Film Wysow (Die Herausforderung / The Challenge) spielt sie die Hauptrolle – die Herzchirurgin Schenja, die einen Monat Zeit hat, sich auf ihren Flug zur ISS vorzubereiten und eine Herzoperation an einem Astronauten durchzuführen. Die Schauspielerin absolvierte selbst die Reise, die ihre Figur in der Geschichte unternimmt. Julia Peressild ist mittlerweile eine der gefragtesten Schauspielerinnen des russischen Kinos, obwohl niemand in ihrer Verwandtschaft ernsthaft an ihren Wunsch glaubte, Schauspielerin zu werden (geschweige denn in den Weltraum zu fliegen).
„Meine Mutter liebte mich sehr und dachte, dass ich wohl irgendwelche Talente hätte, aber sie sagte immer zu mir: ,Komm schon, werde lieber Schuldirektorin – was wärst du schon für eine Schauspielerin?ʻ“, gab Peressild in einem Interview zu.
Julia wurde in Pskow geboren und wuchs auch in dieser Kleinstadt im Nordwesten Russlands, an der Grenze zu Estland und Lettland, auf. Sie träumte stets davon, die Provinzstadt zu verlassen. „Schießereien, Alkoholiker, Schlägereien, Drogenabhängige – ich habe das alles gesehen. In der Disco konnte es passieren, das jemand einfach eine Gaspistole zückte und losschoss. So ein Ding kann man an einem Stand neben dem „Bounty“ kaufen. Die Grenze ist nicht weit weg – wir sind eine Grenzstadt“, erzählte sie über die Achtziger- und Neunzigerjahre.
Peressild beschloss, nach Moskau zu „fliehen“. Sie packte ihre Koffer, erklärte, sie wolle einen „Ausflug“ in der Hauptstadt unternehmen und machte sich auf den Weg zur Prüfung an einem Theaterinstitut, obwohl sie noch nie in ihrem Leben eine einzige Theatervorstellung besucht hatte. Die erste Zeit musste sie im Bahnhof im Zimmer für Mütter mit Kind übernachten.
Die junge Frau wurde angenommen und schon bald begann sie, in Fernsehserien mitzuwirken, meist in Nebenrollen, und fand schnell „ihren“ Filmregisseur – Alexej Utschitel (der u.a. den Skandalfilm Matilda über die Geliebte von Nikolaus II. drehte), mit dem die Schauspielerin ein gemeinsames Kind hat. Ihr kometenhafter Aufstieg begann 2008 mit seinem Film Plennyj (Der Gefangene / The Captive), zwei Jahre später spielte sie in seinem Drama Kraj (Am Rand / The Edge) und erhielt dafür mehrere Preise.
Aber ihre beste Rolle war 2015 die Ljudmila Pawlitschenko in dem Kriegsdrama Bitwa sa Sewastopol (Red Sniper – Die Todesschützin) über die tödlichste Scharfschützin der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Vor den Dreharbeiten unterzog sich die Schauspielerin einer echten militärischen Ausbildung: „Ich musste schießen, ich hatte einen blauen Fleck an der Schulter, einen schweren Bluterguss. Das Schwierigste war, beim Abdrücken nicht zu blinzeln, denn Scharfschützen blinzeln nicht. Dieser Reflex ist bei ihnen verkümmert, sonst könnte in diesem Moment auf sie geschossen werden. Sie entwickeln diese Fähigkeit im Laufe der Jahre.“
Peressild tritt häufig am Theater auf, gewann Theaterpreise und ist seit mehreren Jahren Kuratorin und Mitgesellschafterin von Galtschónok, einer Stiftung für Kinder mit zerebraler Lähmung. In den letzten Jahren hat ihre Popularität rasant zugenommen – sie hat mehr als 70 Rollen auf der Leinwand verkörpert und wurde von russischen Fachzeitschriften als eine der zehn besten Schauspielerinnen unter 35 Jahren aufgeführt.
Sie zählt zum Schauspielerstamm des wichtigsten staatlichen Fernsehsenders des Landes, Perwyj kanal – dort spielt sie regelmäßig Hauptrollen in den meistdiskutierten Fernsehserien und großen patriotischen Blockbustern. Aber sie wirkt auch immer wieder in Autorenfilmen mit: Ihr jüngstes herausragendes Projekt war Kyrill Serebrennikows Petrowy w grippe(Die Petrows haben Grippe), der dieses Jahr in Cannes uraufgeführt wurde.
Doch Ruhm allein reicht nicht aus, um ins All zu fliegen – Julia setzte sich in einem offenen Wettbewerb gegen 3.000 Bewerber aus verschiedenen Berufsgruppen durch, darunter Piloten, Psychologen und Wissenschaftler. Sie unterzog sich einem kreativen und medizinischen Screening und verbrachte dann drei Monate im Weltraum-Trainingszentrum: Zentrifugen-Tests, Überleben in der Wildnis (für den Fall, dass die Kapsel mit der Besatzung nicht am erwarteten Landepunkt landen würde), Fliegen in der Schwerelosigkeit usw.
„Training... Aufstieg... Rückkehr... in Raumanzügen... in Ammoniakmasken... am nächsten Tag in Gasmasken für 4 – 6 Stunden nonstop... Flugnachbesprechung durch erfahrene Kosmonauten... Tausende von unbekannten Wörtern... und nachts dann die Informationen verarbeiten... Flugunterlagen erneut lesen... Fehler analysieren, um sie nicht zu wiederholen“, beschrieb sie diese Zeit auf ihrer Instagram-Seite.
Peressild war die fünfte russische Frau, die an einer Weltraummission teilnahm, und die erste, die seit 2015 die ISS besuchte. Sie sagt von sich selbst, dass ihr ganzes Leben von Überwindung geprägt war – und das ist ihrer Meinung nach ihre Hauptmotivation: „Ich mag es wirklich, gegen den Strom zu schwimmen. Wenn man mir sagt: ,Das kannst du nichtʻ, dann kann ich es wahrscheinlich doch tun.“
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