Das Jahr 1654. In Russland wütet eine Pestepidemie und es findet eine totale Sonnenfinsternis statt. Der rechtschaffene Priester Awwakum sieht darin ein Zeichen des Zorns Gottes über die Kirchenreformen des abtrünnigen Patriarchen Nikon. Awwakum predigt gegen die Reformen und wird zu einem der Anführer des Schismas und der „Altgläubigen“. Er wird ins Gefängnis geworfen, von wo aus er seine Geschichte zu erzählen beginnt...
Wer war Awwakum?
Der spätere Schriftsteller Awwakum Petrow wurde in einem Dorf in der Region Nischni Nowgorod in die Familie eines Priesters geboren. In seiner Hagiographie heißt es, dass er im Alter von 21 Jahren Hilfspriester (Diakon) wurde und im Alter von 31 Jahren zum Protopopen „aufgestiegen“ war, einem ziemlich hohen Rang im Klerus. Selbst Zar Alexej Michailowitsch kannte und schätzte ihn.
Awwakum kämpfte aktiv gegen Ungerechtigkeit und setzte sich für Bedürftige ein, geriet oft in Konflikte und stellte sich einflussreichen Leuten in den Weg. Er weigerte sich, den Sohn eines angesehenen Bojaren zu segnen und rettete ein Waisenmädchen vor den aufdringlichen Ansuchen ihres Vormunds. Awwakum wurde beschimpft und geschlagen und einmal wurde sogar sein Haus angegriffen.
Er floh vor seinen Verfolgern nach Moskau, wo gerade die Kirchenreform begonnen hatte. Patriarch Nikon hatte eine Reihe von Änderungen am Kanon vorgenommen und unter anderem angeordnet, dass die Gläubigen sich mit drei Fingern statt mit zwei zu bekreuzigen haben. Awwakum sah dies als echtes Unglück an – und beobachtete mit Schrecken, wie Nikon die neuen Regeln durchsetzte und diejenigen, die sich nicht daran hielten, hart bestrafte. Sie wurden ins Gefängnis geworfen und einigen besonders hartnäckigen Mönchen wurden die Finger abgetrennt und die Zunge herausgeschnitten.
Weil er sich weigerte, sich mit drei Fingern zu bekreuzigen und gegen die Reformen predigte, wurde Awwakum selbst für einige Jahre nach Sibirien verbannt. Später wurde ihm erlaubt, nach Moskau zurückzukehren, in der Hoffnung, dass er die Reformen annehmen würde. Der Zar selbst kam, um ihn zu überreden, aber Awwakum war unnachgiebig. Man gab alle Überzeugungsversuche auf und steckte ihn ins Gefängnis, wo er seine Geschichte aufschrieb.
Aus dem Gefängnis heraus predigte Awwakum jedoch weiter, weshalb er und seine Mitstreiter hingerichtet wurden: 1682 wurden sie bei lebendigem Leib verbrannt.
Das Leben des Heiligen, von ihm selbst geschrieben
Mit Hagiographien begann im Grunde genommen die gesamte altrussische Literatur. Das Leben eines Heiligen wurde nach seinem Tod von Chronisten in den Klöstern nach klaren, von der Kirche festgelegten Regeln aufgeschrieben. Sie beschrieben, wie rechtschaffen der Heilige gelebt und welche Wunder er vollbracht hatte. Awwakums Hagiographie zeichnet sich zumindest dadurch aus, dass sie zu seinen Lebzeiten und von ihm selbst verfasst wurde. Darüber hinaus ist der Text angefüllt mit konkreten Namen, Orten und Detailbeschreibungen. Auch Wunder erwähnt Awwakum – am Ende zählt er Fälle auf, in denen er Menschen geheilt und von Dämonen befreit hat.
Das Innovative an Awwakum besteht auch darin, dass er ausführlich über seine Gefühle, sündigen Gedanken, geistigen Qualen und Zweifel schreibt. Er erzählt zum Beispiel, wie eine junge Frau zu ihm kam und ihm ihre Ausschweifungen beichtete, woraufhin in ihm selbst das Feuer der Versuchung entfacht wurde („ich selbst spürte Schmerzen und in mir brannte das Feuer der Versuchung“). Er überwand diese schließlich. Leo Tolstoi beschrieb ähnliche seelische Qualen viel später in seinen Tagebüchern und auch in seiner Prosa, zum Beispiel in der Kreutzersonate.
Außerdem ist Awwakums Hagiographie auch ein publizistisches Werk. Der Protopope äußert sich zu einer Vielzahl von Glaubens- und Lebensfragen, polemisiert mit anderen Priestern und führt Argumente gegen Nikon zur Verteidigung des „alten“ Glaubens auf.
Der erste Rüpel der russischen Literatur
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb Dmitri Swjatopolk-Mirskij in seiner auf Englisch erschienenen Geschichte der russischen Literatur, dass Awwakum nicht nur an erster Stelle unter den russischen Schriftstellern steht, sondern dass ihn seither niemand in „seiner geschickten Beherrschung sämtlicher Ausdrucksmittel der Alltagssprache für die eindrucksvollsten literarischen Effekte“ übertroffen hat.
Es wird allgemein angenommen, dass das literarische Russisch, das wir heute noch in Wort und Schrift verwenden, von Alexander Puschkin geprägt wurde. Vor ihm verwendete die Literatur einen „gehobenen Stil“ – Wörter und Sätze, die in der gesprochenen Sprache nicht vorkommen. Awwakum war jedoch der erste, der in seiner Schrift die Umgangssprache verwendete.
Der Protopope beginnt seine Erzählung, indem er sich beim Leser dafür entschuldigt, dass er sich so einfach wie möglich ausdrücken möchte: „Ich liebe meine natürliche russische Sprache und schmücke meine Reden normalerweise nicht mit philosophischen Versen aus.“ Seine grobe Sprache verbindet er sogar mit einer Erörterung über den Glauben und Verweisen zu Christus. Awwakum erzählt zum Beispiel von einem rabiaten Wärter, der zu ihm ins Verlies kam: „Ich schor und wusch ihn und wechselte seine Kleider, denn es gab viele Läuse. Abgeschieden lebten wir beide, aber Christus und die selige Jungfrau Maria waren bei uns“, und im nächsten Satz sagt er, dass der Kerkermeister seine Notdurft an Ort und Stelle verrichtete.
Gleichzeitig ist der Erzpriester aber auch erhaben, vor allem wenn er über Menschen spricht, die für den Glauben gelitten haben. Und bei der Beschreibung menschlicher Nöte wie Hunger und harte Arbeit in der Verbannung ist er sogar noch poetischer: „Der Fluss ist seicht, die Flöße sind schwer, die Büttel sind unbarmherzig, die Stöcke sind lang, die Knüppel sind knorrig, die Peitschen sind beißend, die Folter ist hart – Feuer und Peitschenhiebe, die Menschen hungern.“
Der erste russische Schriftsteller
Die „Lebensgeschichte“ war eine verbotene Literatur und wurde nur auf handgeschriebenen Blättern unter den Altgläubigen verteilt. 1861 erschien sie zum ersten Mal gedruckt. Erstaunlicherweise schreibt Dostojewski zu dieser Zeit seine Aufzeichnungen aus einem Totenhaus.
Viele hielten Awwakum für unwissend und flegelhaft, aber alle waren von seiner Sprache begeistert. „Hier ist sie, die lebendige Sprache Moskaus“, schrieb Iwan Turgenjew. Leo Tolstoi las seiner Familie Auszüge aus Awwakums Hagiographie vor und nannte den Schismatiker einen „hervorragenden Stilisten“. Auch Fjodor Dostojewski lobte ihn. In seinem Tagebuch eines Schriftstellers schreibt er, Awwakums Sprache „ist unbestreitbar vielseitig, reichhaltig, allumfassend und ganzheitlich“ und es sei unmöglich, seine Geschichte in eine Fremdsprache zu übersetzen – „dabei käme nur Humbug heraus“.
Der sowjetische Schriftsteller Maxim Gorki, dessen Figuren den Seiten von Awwakums Hagiographie entsprungen zu sein scheinen, hielt den Schismatiker sogar für den ersten russischen Revolutionär: „Die Sprache und der Stil von Awwakums Briefen und seiner ,Lebensgeschichteʻ bleiben das unübertroffene Modell einer feurigen und leidenschaftlichen Rede eines Kämpfers.“
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