Wolkenbügel: Wie würden die horizontalen Wolkenkratzer des Avantgardisten Lissitzky aussehen?

Kultur
JEKATERINA SINELSCHTSCHIKOWA
„Wolkenbügel“ – so heißen die acht horizontalen Wolkenkratzer, die der Architekt Eliezer „El“ Lissitzky vor fast einhundert Jahren projektierte und die in Moskaus bester Lage entstehen sollten.

Während Kasimir Malewitsch den radikalen Schritt in die Abstraktion wagte und mit dem Suprematismus eine neue Form der ungegenständlichen Malerei erfand, entwickelte sein Kollege El Lissitzky die Ideen der Avantgarde in drei Dimensionen – er führte den Suprematismus in die Architektur ein.

Der sowjetische Ingenieur, Architekt und Künstler El Lissitzky war im Ausland viel bekannter als in seiner Heimat. Zu seinen Kollegen und Freunden zählten Le Corbusier, Fernand Léger, Man Ray, Laszlo Mohoy-Nagy und andere Künstler, die die internationale Kunstszene bestimmten. Dieser frenetische Anhänger des Suprematismus hatte einen großen Einfluss auf die Gründer des Bauhauses und auf den Konstruktivismus in ganz Europa, wo Lissitzky lange Zeit studierte und lebte.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zwang ihn zur Rückkehr nach Russland. Von diesem Moment an richtete er seine Kreativität auf das „russische Material“. Im Jahr 1924 hatte er die grandiose Idee, acht identische Gebäude in Moskau zu bauen: die ersten sowjetischen Wolkenkratzer. Das Grandiose daran war, dass sich diese Wolkenkratzer nicht nach oben, sondern in die Breite erstrecken sollten.

Dies sei die wahre Architektur der Zukunft, so Lissitzky.

Wenn kein Platz vorhanden ist

In seinem Denken war Lissitzky ein echter Futurist. Ihm kamen immer wieder innovative Ideen zu verschiedenen Bereichen des Lebens. So sagte er beispielsweise das Zusammenwachsen von Stadt und Landwirtschaft und das Aufkommen alternativer Energiequellen voraus.

Und er war der Meinung, dass das Konzept des Eigenheims der Vergangenheit angehören sollte. An seine Stelle würde autonomes mobiles Wohnen treten (so etwas wie eine Vielzahl von Kommunen, die über die Stadt verstreut sind – jeder kann je nach den Umständen die eine mit der anderen tauschen und dort leben).

Das Projekt des horizontalen Wolkenkratzers war ein solches „Zukunftsprojekt“. Die „klassischen“ amerikanischen Wolkenkratzer empörten Lissitzky als Konzept an sich: „Dieser Typus [der Architektur] ist völlig anarchisch entstanden, ohne Rücksicht auf die Organisation der Stadt als Ganzes. Sein einziges Bestreben war es, seinen Nachbarn an Größe und Pracht zu übertreffen“, schrieb er 1926 in der Zeitschrift Iswestija Asnowa, die von der Kreativvereinigung der sowjetischen rationalistischen Architekten herausgegeben wurde (und von der nur eine einzige Ausgabe erschien).

Dort beschrieb er auch das Wesen seines Projekts. Lissitzky wollte die Idee einer Stadt auf zwei Ebenen verwirklichen, bei der ein Gebäude mit vertikalen Stützen auf kleinstmöglicher Grundfläche errichtet wird, ohne die Umgebung zu beeinträchtigen.

„Wenn es in einem bestimmten Bereich keinen Platz für eine horizontale Anordnung auf dem Boden gibt, setzen wir die erforderliche Nutzfläche auf Säulen <...>. Das Ziel: maximale Nutzfläche bei minimalem Unterbau“, schrieb er.

Die projektierten acht Glas- und Betongebäude am Moskauer Boulevardring waren für sowjetische Ministerien und Behörden bestimmt. Der Architekt schlug vor, die Wolkenkratzer auf eine Höhe von 50 Metern über dem Boden zu errichten. Die Stützen sollten über Aufzüge und Treppen verfügen, mit denen man direkt zur U-Bahn oder zu einer Haltestelle des öffentlichen Nahverkehrs hinunter gelangen konnte.

Die Wolkenkratzer wurden, obwohl sie fortschrittlich waren, jedoch nie gebaut. „Unser Fehler war“, erinnerte sich Lissitzky, „dass wir gleich in eine Technik einsteigen wollten, die es noch nicht gab – ich wollte eine Architektur schaffen, die sich von ihrem Fundament löst, in der Luft schwebt und die Schwerkraft überwindet.“ Mit anderen Worten: Die Idee war ihrer Zeit voraus.

Zu Lissitzkys weiteren architektonischen Projekten gehörten eine Textilfabrik, ein Yachtclub, ein Gemeindehaus und das Verlagshaus der Zeitung Prawda. Das einzige realisierte Projekt war die Druckerei Ogonjok in der 1. Samotetschnyj-Gasse in Moskau.

Dennoch ist der Architekt Lissitzky vor allem für seine Wolkenkratzer bekannt. Der Illustrator Konstantin Anochin studierte die Zeichnungen des Architekten und zeigte, wie diese avantgardistischen Bauten heute aussehen würden, und zwar an den Orten, an denen Lissitzky selbst sie bauen wollte.

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