Warum hat Gogol den zweiten Band der Toten Seelen verbrannt?

Kira Lisitskaya (Photo: Legion Media)
Der Schriftsteller hatte eine Trilogie geplant, war aber bereits mit dem zweiten Band unzufrieden. Was war der Grund?

Der bedeutendste Satiriker der russischen Literatur hatte geplant, sein berühmtestes Werk in drei Teilen zu schreiben, in der Form von Dantes Göttlicher Komödie – mit Hölle, Fegefeuer und Paradies. Der erste Band, der 1842 im Druck erschien, wird allgemein als Tote Seelen bezeichnet. Tatsächlich ging es um die Hölle und der Roman ist perfekt gelungen: Gogol porträtiert eine ganze Palette negativer Charaktere und eine breites Spektrum  sehr unterschiedlicher Laster.

Zum Inhalt: Der Kleinadelige Pawel Tschitschikow kommt in eine kleine Stadt und gibt sich als Gutsbesitzer aus, um in der Gesellschaft an Gewicht zu gewinnen. Aber der Haken an der Sache ist, dass er keine einzige „Seele“, d.h. keine Leibeigenen, hat. Also beschließt er, eine Spitzfindigkeit auszunutzen, die ihm die russische Bürokratie bietet: Jeder Gutsherr führt eine Liste seiner Leibeigenen, die nur alle paar Jahre aktualisiert wird. Selbst wenn also ein Bauer nicht mehr am Leben ist, zahlt der Gutsherr Steuern für diesen, da er bis zur nächsten Revision als lebende Person gezählt wird. Tschitschikow sucht die Gutsherren auf und bittet sie, ihm solche toten „Seelen“ zu verkaufen... Die Reaktion auf seinen Vorschlag ist sehr unterschiedlich.

Eine Illustration für „Tote Seelen“.

Gogol selbst nannte das Werk ein Poem, obwohl es in Prosa geschrieben ist. Die Form entspricht einem Poem in dessen antiker Bedeutung: Die Abenteuer des Helden Tschitschikow werden in mehreren wiederkehrenden „Höllenkreisen“ beschrieben, als ob Odysseus von Schimäre zu Schimäre reist. Außerdem enthält das Poem umfangreiche lyrische Exkurse über Russland und die Russen. Das Werk gilt als der Höhepunkt von Gogols Schaffen und als einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der russischen Seele. Und der Protagonist des Buches ist vielleicht gar nicht Tschitschikow, sondern Russland selbst.

Worum sollte es im zweiten Band gehen?

Der zweite Teil sollte nach Gogols Vorstellung so etwas wie Dantes Fegefeuer werden, der dritte Teil das Paradies. „Die Fortsetzung wird in meinem Kopf immer klarer und majestätischer“, schrieb Gogol an seinen Freund, den Schriftsteller Sergej Aksakow.

Die Charaktere sind hier nicht mehr so negativ. „Warum also die Armut, ja die Unvollkommenheit unseres Lebens darstellen, indem man Menschen aus der Wildnis, aus entlegenen Winkeln des Staates ausgräbt?“ – mit diesen Worten beginnt Gogol den zweiten Band.

Tentetnikow, den wir zu Beginn des Buches kennenlernen, führt ein müßiges und gelangweiltes Leben, aber der Autor erwähnt, dass er einst voller Träume und Pläne war, die jedoch alle an der Kleinlichkeit und Nutzlosigkeit seines Beamtendienstes scheiterten.

Außerdem wollte Gogol Wege zur Besserung finden und aufzeigen. Aus dem Mund der Figuren erzählt er, wie man die Korruption beenden könne: Jeder Staatsbedienstete bedarf der Anerkennung durch seine Vorgesetzten, um gut zu arbeiten und nicht zu stehlen.

Fjodor Möller. Porträt von Nilokai Gogol, 1840

Beschreibt Gogol im ersten Band den Schmutz und Unwägbarkeiten, so bewundert er im zweiten Band geradezu die russischen Weiten und Landschaften.

Tschitschikow besucht auch weiterhin die Gutsherren und kauft tote Seelen auf, aber irgendwann wird die Kiste mit all den Kaufscheinen gestohlen. Außerdem wird bekannt, dass jemand Tschitschikow wegen seiner Machenschaften denunziert hat. Nachdem er im ersten Band keine lebhaften Emotionen gezeigt hat, ist Tschitschikow nun verzweifelt und reißt sich die Haare aus. Das Manuskript ist jedoch unvollendet und wir erfahren nie, was aus dem Helden geworden ist.

Warum hielt Gogol den zweiten Band für gescheitert?

Der zweite Band der Toten Seelen ist das letzte Werk, an dem Gogol arbeitete. Seit der Veröffentlichung des ersten Band waren einige Jahre vergangen und der Autor hatte sich verändert – er hatte einen geistigen Umbruch durchlebt und eine schmerzhafte Sehnsucht nach Religion entwickelt, begleitet von schweren Neurosen und „ängstlicher Unruhe“.

„Du fragst, ob ich mit den Toten Seelen vorankomme? Ja und nein. Ich komme voran, aber nur sehr langsam und überhaupt nicht so, wie ich es mir wünsche“, schreibt Gogol an seinen Lieblingsdichter Nikolai Jasykow. Eine Gemütsverstimmung behinderte seine Arbeit erheblich. Gogol konnte nicht mehr schreiben „wie in der Jugend, das heißt, spontan, wohin meine Feder mich führt“, gab er zu. Jede Zeile musste er sich abringen.

Die einzige Person, die den zweiten Band der Toten Seelen gelesen hat, war Erzpriester Matwej, mit dem der Autor korrespondierte und ausführliche und ziemlich hitzige Debatten über eine Vielzahl von Themen führte. Matwej äußerte sich negativ über die von Gogol geleistete Arbeit, bezeichnete sie als schädlich und verlangte sogar, sie zu zerstören.

Michail Clodt. Ende von „Toten Seelen“ (Gogol verbrennt sein Manuskript). 1887

Aber auch Gogol selbst spürte, dass der zweite Band nicht gelungen war. Negative Charaktere und die völlige Hoffnungslosigkeit gelangen ihm seiner Meinung viel besser. „Das Erscheinen des zweiten Bandes in seiner jetzigen Form hätte mehr Schaden als Nutzen gebracht“, schrieb Gogol.  „Ein paar edle Charaktere zu erschaffen, die den Edelmut unserer Art zum Ausdruck bringen, wird zu nichts führen. Das weckt nur müßigen Stolz und Angeberei...“

Am 24. Februar 1852 vernichtete Gogol die Früchte seiner Arbeit, den fast fertigen zweiten Band der Toten Seelen. Verschiedenen Spekulationen zufolge verbrannte Gogol das Manuskript entweder in einem Anfall von Wut oder... aus Versehen. Angeblich habe er nur die ersten Entwürfe vernichten wollen, aber aus Nachlässigkeit auch die Endfassung in den Kamin geworfen. Wie auch immer, dieses Ereignis hinterließ beim Autor seine Spuren – er starb neun Tage später.

Die erhaltenen Kapitel des zweiten Bandes sind eine Rekonstruktion aus den fünf erhaltenen Notizbüchern. Diese unterschiedlichen Kapitel stammen offensichtlich aus verschiedenen Entwürfen des Autors. Außerdem unterscheiden sie sich in Inhalt und Tonalität, und sogar die Tinte und das Papier sind unterschiedlich. Aus diesen Seiten ergibt sich kein kohärentes Bild und die Absicht des Autors ist bis zum Schluss nicht zu erkennen. 

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