Ist Russland Europa oder Asien? Die Russen sind sich darüber nicht einig

Kira Lisizkaja (Photo: Global Look Press; Unsplash; Pixabay)
Die Mehrheit der Bevölkerung Russlands lebt im europäischen Teil des Landes, aber geografisch gesehen liegt der größte Teil des Landes in Asien. Zu welchem Kontinent gehört Russland mental?

Im 10. Jahrhundert entschied sich Russland für seine zivilisatorische Zugehörigkeit, indem es das Christentum annahm und damit den östlichen Rand der christlichen Welt bildete. Aber die Nähe zum Osten, die Zugehörigkeit einiger Völker zum Islam und die 300 Jahre währende tatarisch-mongolischer Herrschaft (von 1242 bis Ende des 15. Jahrhunderts) hatten eine deutliche „asiatische Prägung“ in der Mentalität hinterlassen. 

Die Grenzlage der „russischen Welt“ machte das Land zu einem ständigen Konfliktfeld zwischen Ost und West.

Eine deutliche Hinwendung zur westlichen Kultur erfolgte unter Peter dem Großen (1672-1725). Der erste russische Imperator glaubte, dass es für das Überleben des Landes notwendig sei, die gesamte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu modernisieren und dabei die Erfahrungen der europäischen Nachbarn zu nutzen. Diese drastische Modernisierung der russischen Gesellschaft führte zu einer neuen Hauptstadt im europäischen Stil, zu Untertanen in europäischer Kleidung und ohne Bärte und zu vielen anderen kulturellen Phänomenen, die von den Russen mit gemischter Haltung aufgenommen wurden.

Seitdem gibt es unter Denkern eine anhaltende Debatte darüber, ob die Wende ein Segen oder ein großer Fehler war und ob Russland zur europäischen, zur asiatischen oder zu einer anderen Zivilisation im Allgemeinen gehört.

Wassilij Tatischtschew: Russland gehört zu Europa

Wassilij Tatischtschew.

Der Historiker und Autor der Geschichte Russlands aus dem 18. Jahrhundert war einer der ersten, der erklärte, warum die imaginäre Grenze zwischen Europa und Asien durch das Uralgebirge markiert werden sollte. Zuvor war vorgeschlagen worden, den Jenissei oder den Ob als Grenze zu wählen. (Antike Historiker schlugen sogar vor, dass die Grenze entlang des Don und des Schwarzen Meeres bis nach Konstantinopel verlaufen sollte). Tatischtschew (1686-1750) führte jedoch verschiedene naturwissenschaftliche Argumente an – hinter dem Ural zum Beispiel haben sogar die Flüsse unterschiedliche Strömungsmuster (und andere Fischarten), und viele Bäume, die in Europa wachsen, gibt es nicht jenseits des Uralgebirges.

Für Tatischtschew war Russland zweifelsohne ein europäisches Land, „genau wie das Königreich Polen, Preußen und Finnland“. Bei der Beschreibung der Geschichte des alten Russlands vor der Eroberung des Kasaner Khanats und Sibiriens kommt Tatischtschew zu dem Schluss, dass Russland „durch natürliche Umstände“ zu „nichts anderem als Europa“ gehöre. 

Nikolaj Karamsin: Russland hat Europa fast eingeholt

Nikolaj Karamsin.

Dieser Historiker des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts gilt als Schöpfer des Konzepts des russischen Europäers. Karamsin (1766-1826) sieht in Peters Hinwendung zu Europa einen unzweifelhaften Segen für das Land, weil Russland die Errungenschaften der europäischen Vernunft – vor allem Wissenschaften, Künste, Militärhandwerk und Staatsaufbau – erfolgreich nutzen konnte.

„Die Deutschen, Franzosen und Engländer waren den Russen seit mindestens sechs Jahrhunderten voraus; Peter hat uns mit seiner mächtigen Hand bewegt, und in wenigen Jahren hatten wir sie fast eingeholt. Alle elenden Jeremiaden über die Veränderung des russischen Charakters, über den Verlust der russischen moralischen Physiognomie oder ähnliches, sind ein Scherz oder entstammen einem Mangel an gründlichem Denken. Wir sind nicht wie unsere Vorväter: Und das ist auch gut so!“, schreibt Karamsin auf einer Reise durch Europa. 

Fjodor Dostojewski: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir nur Europäer sind

Fjodor Dostojewski.

Nach vielen Jahren, in denen die öffentliche Aufmerksamkeit nur auf Europa gerichtet war, schlägt Dostojewski (1821-1881) vor, den Blick Russlands auf Asien „gesunden“ zu lassen.

„Unser ganzes russisches Asien, einschließlich Sibirien, scheint für Russland immer noch als eine Art Anachronismus zu existieren, für den sich unser europäisches Russland nicht einmal interessieren will“, beklagt der Schriftsteller.

„Wir müssen uns von der Angst verabschieden, dass wir in Europa als asiatische Barbaren bezeichnet werden und dass man über uns sagt, wir seien mehr Asiaten als Europäer. Diese Schande, dass Europa uns als Asiaten betrachtet, verfolgt uns seit fast zwei Jahrhunderten.“ Dostojewski bezeichnet diese Scham als unrichtig, ebenso wie es falsch ist, dass sich die Russen ausschließlich als Europäer und nicht als Asiaten sehen, „was wir immer waren“. Dostojewski ärgert sich auch darüber, dass Russland „sich aufdrängt“, mit Europa zu tun  haben zu wollen, und alles dafür tut, dass Europa uns als die Seinen anerkennt, „und nicht als Tataren“. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass der Ausgang und die Zukunft Russlands vielleicht in Asien gesucht werden sollten.

Wassilij Kljutschewskij: Russland als Brücke zwischen Europa und Asien

Wassilij Kljutschewskij.

Die schwierige geografische Lage des Landes bestimmte sein historisches und kulturelles Schicksal, argumentierte Kljutschewskij (1841-1911), Professor und Historiker für das 19. Jahrhundert. Russland war schon immer ausländischem Einfluss ausgesetzt – aber es wurde immer wieder neu interpretiert und auf russischem Boden umgesetzt. Zunächst war es Byzanz und das Christentum, das von dort nach Russland kam, und später war es Westeuropa und dessen Wissenschaften sowie der allgemeine politische Bereich, dem sich Russland erst nach Peter endlich anschloss. Besonders im 19. Jahrhundert, so Kljutschewskij, begann Russland, sich die Frage nach der Zugehörigkeit zu Europa zu stellen und dabei die östliche Ausrichtung zu vergessen. Und der Gedanke, dass Russland europäisch sei, setzte sich erst durch, als mit Katharina II. eine Deutsche viele Jahrzehnte auf dem Thron saß.

„Historisch gesehen ist Russland sicherlich nicht Asien, aber geografisch gesehen ist es auch nicht ganz Europa. Es ist ein Land im Übergang, ein Vermittler zwischen zwei Welten. Die Kultur hat es untrennbar mit Europa verbunden; aber die Natur hat ihm Züge und Einflüsse verliehen, die es stets nach Asien gezogen haben“, schrieb Kljutschewskij in seinem Lehrgang der russischen Geschichte.

Lew Gumiljow: Russische Eurasier werden Europa überholen

Lew Gumiljow.

Der berühmte Historiker und Ethnograf Lew Gumiljow (1912-1992), Sohn der berühmten russischen Dichter Anna Achmatowa und Nikolaj Gumiljow, ist bekannt für die Einführung des Konzepts der Super-Ethnien – einer Formation, die aus einem Mosaik ethnischer Gruppen aus einer Region hervorgegangen ist. Solche Super-Ethnien waren die westeuropäische christliche Welt und die muslimische Welt. Im Laufe seiner geschichtlichen Entwicklung wurde das russische Volk auch zu einem Super-Ethnos, das bis zum 18. Jahrhundert im Zuge der Erschließung Sibiriens und Zentralasiens auch andere ethnische Gruppen einschloss. Das russische Ethnos ist viel jünger als das westeuropäische Ethnos und befindet sich daher noch auf einer etwas niedrigeren Entwicklungsstufe, wird aber laut Gumiljow bald einen Aufschwung erleben.

Gumiljow war ein Anhänger des Eurasianismus, d.h. er glaubte, dass die westeuropäische Kultur in einer Krise stecke und der Osten die Oberhand gewinne. Das russische Super-Ethnos, das die europäischen Slawen und die nicht-slawischen Völker Asiens vereint, solle zu einem der Flaggschiffe der eurasischen Kultur werden. 

Gumiljow studierte viele Jahre lang Asien und war von der dortigen Kultur fasziniert. „Der banale Eurozentrismus ist ausreichend für die philiströse Wahrnehmung, aber ungeeignet für das wissenschaftliche Verständnis der Vielfalt der beobachteten Phänomene. Denn aus der Perspektive eines Chinesen oder Arabers erscheinen die Westeuropäer minderwertig“, schreibt Gumiljow in seinem Buch Ethnogenese und die Biosphäre der Erde

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