Wie das jakutische Kino Russland und die Welt erobert hat

Kultur
NIKOLAJ KORNAZKIJ
Heute werden in ganz Russland Filme gedreht, aber eine echte lokale Filmindustrie gibt es nur in einer Region: Jakutien.

In Jakutien gibt es eine echte Filmindustrie, wenn auch in kleinem Umfang: Eine Wettbewerbssituation durch private Studios, eine Filmschule, einen privaten Filmförderfonds, ein jährliches Festival und sogar einen eigenen Netflix-Videodienst, SAKHAMOVIE.RU. Am wichtigsten ist jedoch, dass die lokalen Filme an den regionalen Kinokassen sehr beliebt sind und sowohl die Moskauer als auch die Hollywood-Kinos in Bezug auf die Einspielergebnisse übertreffen.

In letzter Zeit haben jakutische Regisseure Preise bei den führenden russischen und westlichen Festivals gewonnen.

Was ist das Geheimnis des jakutischen Phänomens?

Die Mauer aus Game of Thrones gibt es wirklich

Die Republik Sacha (der Selbstname der Jakuten) ist die größte Region Russlands, nimmt fast 20 % des Landes ein und ist flächenmäßig etwas kleiner als Indien (über 3 Millionen Quadratkilometer). Ein wichtiges Detail ist jedoch, dass in ganz Jakutien nicht einmal eine Million Menschen leben, während Indien mehr als 1,4 Milliarden Einwohner hat. Fast vier Fünftel der Republik sind von Wäldern bedeckt, mit sehr kurzen Sommern und extrem niedrigen Temperaturen im Winter. Das Dorf Ojmjakon ist einer der Kältepole der Welt. Erst im Januar dieses Jahres wurde in der Republik ein 30-jähriger Frostrekord gebrochen – Meteorologen maßen minus 62,4 Grad Celsius.

Mit anderen Worten: Dies ist einer der rauesten Orte der Erde, der scheinbar keine Voraussetzungen für einen Filmboom bietet. Ja, die Orte sind unglaublich kinematografisch (Enthusiasten haben sogar ein Scherz-Video gedreht, in dem sie behaupten, dass es die Mauer aus Game of Thrones wirklich gibt und dass es die Lena-Säulen sind). Der natürliche Hintergrund ist für die Leinwand reizvoll – die Region ist multiethnisch: Hier leben nicht nur heidnische Jakuten (die ein Turkvolk sind) und Russen, sondern auch viele nördliche Völker (Ewenken, Ewenen, Dolganen, Jukagiren, Tschuktschen), die ihre Traditionen bewahren. Die Republik verfügt jedoch eigentlich nicht über die notwendige Infrastruktur für Filmaufnahmen. Ein paar Filme können gedreht werden, aber man kann keine Industrie aus reinem Enthusiasmus aufbauen.

Doch genau das ist passiert. Buchstäblich über Nacht ist die ganze Region dem Filmemachen verfallen.

Jeder filmt und jeder schaut zu

Jakutien ist seit den 1930er Jahren in den Prozess des Filmemachens eingebunden. Studios aus anderen Regionen drehten hier Dokumentarfilme und holten Schauspieler von lokalen Theatern. Eigene Filmgesellschaften – darunter das staatliche Studio Sakhafilm – entstanden erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR in den frühen 1990er Jahren. Der eigentliche Kinoboom kam später, als die Kinos begannen, an das einheimische Kino zu glauben und es in ihr Repertoire aufzunehmen. Der erste Film, Sergej Potapows Thriller Ljubow moja (dt.: Meine Liebe) aus dem Jahr 2004, sorgte für großes Aufsehen: Sein Erlös an den Kinokassen war viermal so hoch wie das Budget für die Dreharbeiten, aber viele Zuschauer, die offensichtlich ein Melodram erwartet hatten (was nahelag bei einem solchen Titel), waren über die blutigen Szenen und den schwarzen Humor empört. Dennoch war das Eis gebrochen. In den letzten Jahren wurden ein bis zwei jakutische Filme pro Monat in die Kinos gebracht.

Das Publikum sieht sich aktiv Filme aller Genres an, von historischen Actionfilmen (Cholodnoje soloto, dt.: Kaltes Gold) bis hin zu Komödien über Tanz-Battles (Tscheeke). Eines der erfolgreichsten Genres des jakutischen Kinos ist der Horrorfilm. Es gibt sogar eine eigene Version der Zombie-Apokalypse – Republik Z (2018). Häufiger werden jedoch Filme über Geister gedreht. Optisch ähnelt alles den japanischen Horrorfilmen, aber während dort in der Regel Boten aus dem Jenseits Rache nehmen, erzählen jakutische Horrorfilme von der Liebe zwischen den Lebenden und den Toten.

Die einheimischen Filmemacher kennen sich im globalen Filmkontext gut aus – sie sind nicht nur mit Hollywood vertraut, sondern auch mit dem asiatischen Kino (an dem sie sich eindeutig orientieren), aber selbst in universellen Themen suchen sie ihren eigenen Akzent. Mystery-Filme greifen auf Motive der lokalen Folklore zurück, historische Dramen behandeln Schlüsselmomente in der Geschichte des Landes und buchstäblich alle Filme werden in der Muttersprache gedreht. Dies schränkt das Publikum erheblich ein – nur die Hälfte der Bevölkerung der Republik (weniger als 500.000 Einwohner) spricht Jakutisch. Aber es ist eine Frage des Prinzips. Kino ist in Jakutien nicht nur Unterhaltung, sondern auch ein Mittel zur Bewahrung der nationalen Identität.

Viele Enthusiasten haben keine professionelle Ausbildung – und sie drehen ihre Filme in ihrer Freizeit neben ihrem Hauptberuf (oder haben sie gedreht). Dmitrij Dawydow, der berühmteste Filmemacher Jakutiens, war zum Beispiel Dorfschullehrer. Erst nachdem sein dritter Film, Púgalo (dt.: Der Popanz), auf dem wichtigsten russischen Festival Kinotawr im Jahr 2020 sensationell den großen Preis gewonnen hatte, gab Dawydow seinen Beruf auf und konzentrierte sich ganz auf das Kino. Zu seinen nächsten Plänen gehört ein Musical über sein Heimatdorf Amga.

Jakutsk – Moskau – Jakutsk

Der umsatzstärkste Film aus Jakutsk ist die Kriminalkomödie Agent Mambo (2019) über einen Polizisten, der eine Verbrecherbande infiltriert. Mit einem Budget von weniger als 2 Millionen Rubel (umgerechnet etwa 25.000 Euro) hat der Film fast 16 Millionen Rubel eingespielt. Das durchschnittliche jakutische Budget liegt gerade mal zwischen 1 und 3 Millionen Rubel – die Kreativteams sind kompakt, sie drehen schnell und die Gehälter sind gering.

Natürlich gibt es auch teurere Filme. So kostete der erste jakutische Film im landesweiten Verleih, der Thriller Moj ubiza (dt.: Mein Mörder) aus dem Jahre 2016 von Kostas Marsaan, 5 Millionen Rubel in der Produktion. Marsaans nächster Film, der Ethnohorror Itschtschi (2020), kostete 26 Millionen Rubel (325.000 Euro). Die Hauptrolle darin spielte der russische Star Marina Wassiljewa, bekannt durch das Oscar-nominierte Drama Njeljubow (engl. Titel: Loveless) von Andrej Swjaginzew. „Itschtschi hat sich erfolgreich auf internationalen Genrefestivals durchgesetzt – er war in Lissabon, Wien und Sitges zu sehen. Und im Frühjahr wird Marsaans neues Werk, der Thriller Detektor mit Kirill Kjaro (zu sehen in dem Film Vongozero – Flucht zum See), der für das Gorki Film Studio in Moskau gedreht wurde, in die Kinos kommen. Ich muss sagen, dass dieser Karriereweg – von Jakutsk nach Moskau – bisher ziemlich einzigartig ist. Viele Leute studieren an Filmhochschulen in der Hauptstadt, kehren dann aber in ihre Heimat zurück, um zu arbeiten.“

Das jakutische Phänomen hat jedoch nationales und internationales Renommee erlangt, und zwar eher durch das Autorenkino als durch Genrefilme. Inzwischen haben einheimische Regisseure bei den führenden russischen Filmfestivals wie Kinotawr, Okno w Ewropu und dem Internationalen Filmfestival Moskau große Preise gewonnen und auch viele internationale Preise und Nominierungen erhalten. So gewann Dmitrij Dawydows Debüt Kostjór na wetru (2016) den Preis für das beste Drama bei ImagineNATIVE in Toronto, lief im Wettbewerb des Pusan Festivals und wurde für den asiatischen Oscar, den Asia-Pacific Film Academy Award, nominiert. Wladimir Munkujews historisches Drama Nuutschtscha (2021) gewann den Großen Preis der Ost-West-Sektion des Karlovy Vary Festivals.