Was ist in der tschuwaschischen Stickerei verschlüsselt? (FOTO)

Wladimir Perwenzew/Sputnik
Hinter diesen bunten Quadraten und Zickzacklinien verbirgt sich die Mythologie eines alten Volkes und eine verschwundene Runenschrift.

Dieses Handtuch wurde 1982 als Souvenir in der berühmten tschuwaschischen Manufaktur

Das Land der hunderttausend Stickereien – so romantisch wird zu Recht die Republik Tschuwaschien in der Wolgaregion genannt. Die Einheimischen sagen sogar, dass die Stickerei für Tschuwaschien so etwas wie Fußball für Brasilien ist. Sie definiert buchstäblich den kulturellen Code des Volkes.

Die tschuwaschische Stickerei ist Mathematik.

Vor etwa einhundert Jahren (und in einigen Gegenden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts) trugen die Tschuwaschen ständig traditionelle Trachten, nicht nur an Feiertagen wie heute. Es war üblich, die Hemden, Schürzen und Kopfbedeckungen der Frauen, die surpany genanntenStolen und breite Bänder, die Masaki, mit Stickereien zu verzieren. Denn die Tschuwaschen betrachteten die Stickerei als Amulett gegen die dunklen Mächte und zum Schutz in erster Linie einer Frau, die ein anderes Leben gebiert.

Die Hochzeit eines Traktorfahrers in einem tschuwaschischen Dorf, 1937.

Es fällt sogleich ins Auge, dass die Handstickerei sehr einer Maschinenstickerei ähnelt – so dünn und ordentlich sind die Stiche auf dem dünnen Tuch. Um sie anzufertigen, musste man zählen können, denn jedes Element belegte eine bestimmte Anzahl von Zellen auf dem Stoff (zwei nach links, drei nach rechts, dann zwei Stiche zurück). All dies musste man bei jedem Muster berücksichtigt werden. Und es gibt allein über 30 bekannte Sticharten! Sticken war also kein lustiger Zeitvertreib mit Freunden, sondern eine echte mathematische Aufgabe. Die doppelseitige Stickerei, die auch auf der Rückseite filigran aussah, erforderte besondere Konzentration.

Theatervorstellung

„Bevor eine Frau heiratete, stickte sie viele Halbfertigteile, die sie dann auf ihre Kleider nähte, denn das spätere Familienleben ließ ihr nicht viel Zeit“, erklärt Nadjeschda Selwerstrowa, die Leiterin des Museums für tschuwaschische Stickerei. „Das Museum bewahrt Stickereierzeugnisse aus der Zeit vom dem Ende des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts auf, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Anhand der Stickereien kann man erkennen, woher die tschuwaschische Meisterin stammt (das Volk teilt sich territorial in drei ethnografische Gruppen ein: die Oberen, Unteren und Mittleren Tschuwaschen), wie ihr familiärer Hintergrund aussieht, wie groß ihr Vermögen ist und wie geschickt sie sich bei der Handarbeit anstellt.

Gestickte Amulette

Nach der tschuwaschischen Mythologie gibt es drei Welten: die untere, die mittlere (in der die Menschen leben) und die obere. Die Wesen, die diese Welten bewohnen, sind in der tschuwaschischen Stickerei zu sehen. Es sind Geister, Tiere und natürliche Elemente.

Hier kann man die Sonne, den Baum und die Pferde auf dem Stoff sehen.

„Alles unterhalb der Taille stellt die untere Welt und die Vergangenheit dar“, erläutert Nadjeschda. „Von der Taille bis zu den Schultern ist unsere Welt, oberhalb der Schultern ist die Verbindung mit dem Kosmos, mit dem Universum zu sehen.“

In der tschuwaschischen Mythologie wurde die Welt vom oberen Gott Tura erschaffen, dem der niedere Gott Schujttan gegenübersteht. Vom Himmel trennten sich die Erde und das Wasser (der Ozean), in dem Enten und Fische erschienen. Drei Sonnen blieben am Himmel (von denen eine zum Mond wurde und die andere in Sterne zerfiel). Und der Baum des Lebens verbindet diese Welten.

Volksensemble der Familie Moisejew, Tschuwaschische ASSR, 1985.

Bereits in der Sowjetzeit sammelten Ethnographen alle tschuwaschischen Ornamente. Es hat sich herausgestellt, dass Quadrate (als Symbole der Erde), achtzackige Sonnensymbole, Enten, Pferde, ein Baum, Augen (das Auge Turas) und andere geometrische Zeichen am häufigsten vorkommen. 

Runen auf Stoff

Unter den tschuwaschischen Mustern fallen einzelne Symbole auf, die den alten Runenschriften ähneln. Runen wurden in der Regel von den Völkern Nordeuropas verwendet, aber ähnliche Zeichen gab es kurzzeitig auch bei den Völkern der Wolgaregion, den Vorfahren der Tschuwaschen. Im Mittelalter wurden solche Symbole als Sippenzeichen verwendet, meist auf Haushaltsgegenständen. Das heißt, sie dienten zur Unterscheidung der Gegenstände einer Familie von denen der anderen.

Stickerei in einem tschuwaschischen Dorf, 1979.

Solche allgemeinen Symbole wurden später auf Stoff übertragen und wurden zu einem Element der tschuwaschischen Stickerei.

Neben der Stickerei schmückten sich die tschuwaschischen Frauen auch mit einer großen Anzahl von Silbermünzen, darunter auch Münzen aus Europa. Wir werden das nächste Mal über sie sprechen.

Heute ist die große Mehrheit der Tschuwaschen russisch-orthodoxen Glaubens. Doch im tiefsten Russland gibt es Dörfer, in denen die Tschuwaschen ihren traditionellen heidnischen Glauben beibehalten haben und sogar Opferrituale durchführen.

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