Sankt Petersburg im Herbst, eine junge Frau vor der Isaakskathedrale, Fußgänger, die gleichgültig das Geschehen passieren und eine kurze Rede über ein „beschämendes Phänomen, ein respektloses Verhalten der Frau gegenüber“. So beginnt das Videomanifest der 19-jährigen Feministin Anna Dowgaljuk mit dem Namen „Was ist unter meinem Rock?“ In den nächsten drei Minuten lüftet ihre Mitstreiterin ihren Rock in der U-Bahn und zeigt ihre Unterwäsche, in den Untertiteln findet man Informationen zum „Upskirting“, bei dem Frauen an öffentlichen Plätzen eine Kamera unter ihren Rock gehalten wird, um sie zu filmen sowie Informationen darüber, dass diese Praxis in Russland, Japan und den USA am weitesten verbreitet ist.
Das Manifest hat Anna Dowgaljuk auf YouTube online gestellt und es „im Namen aller Frauen, die eure Opfer wurden“ allen „Upskirting“-Liebhabern gewidmet. „Schaut! Und kommt uns nicht zu nahe“, heißt es im Video.
Nach den Vorfällen in Hollywood jedoch wurden weder das Video noch das Problem der Respektlosigkeit sowie das Thema Frauenrechte von den meisten Zuschauern richtig verstanden. Die typischen Kommentare folgten: „Zieht euch anständig an, dann wird euch auch niemand unter den Rock schauen“ oder „der Feminismus ist nun 100 Jahre alt und sie haben es immer noch nicht begriffen, dass man Respekt nicht einfordert, sondern sich verdienen muss. Ein nackter Hintern wird dabei wenig hilfreich sein.“
Darüber hinaus wurde Dowgaljuk selbst nach der Veröffentlichung des Videos der Prostitution verdächtigt. Der Journalist Aleksandr Bunin veröffentlichte auf seinem Facebook-Account Fotos von ihr, wie sie Gymnastik am Wolkenkratzer „Burj Khalifa “ in Dubai macht und sich am Strand in Malta und am Pool eines Casinos in Monaco aufhält. Eine Woche später glaubt er, auch ihre Fotos auf der Sankt Petersburger Escortservice-Website „Püppchen“ gefunden zu haben. Auch das Videomanifest geriet in die Kritik: Bunin stellte die Vermutung an, dass das Video „in einem chromochemischen Studio gedreht wurde“, da das Kleid „sich auch bei vorbeifahrenden Zügen nicht bewegt und die Reaktion der Leute gleich Null ist“.
„Irreale“ russische Feministinnen
Auch ohne die journalistische Entlarvung Bunins wäre aus dem Video mit der Unterwäsche wohl keine erfolgreiche Protestaktion des unterdrückten Geschlechts geworden. „Der durchschnittliche russische Bürger sieht die Feministin als eine Frau an, von der einerseits niemand etwas weiß, weder wer sie ist, noch was sie macht, andererseits aber weiß jeder, dass sie böse ist“, sagt uns Leda Garina, Regisseurin und Kuratorin der Antidiskriminierungskampagne „Evas Rippen“.
„Feministinnen werden oft mit homosexuellen Frauen oder „Männerhasserinnen“ gleichgesetzt, mit Verliererinnen, die Probleme in ihrem Privatleben haben – all diese Vorurteile sind in Russland immer noch häufig anzutreffen“, sagt Garina. Zeitgleich wird aber im Livefernsehen eine ernstgemeinte Diskussion darüber geführt, ob eine Frau an ihrer Vergewaltigung selber Schuld trage, und der Rapper Oxxxymiron, der den bürgerlichen Namen Miron Fjodorow trägt, hält vor Tausenden von Zuschauern eine Rede, in der er Feministinnen mit Nationalsozialisten gleichsetzt.
Ein anderer weit verbreiteter Standpunkt ist, dass es den Feminismus weder je gegeben habe noch dass man ihn hierzulande überhaupt brauche. Als im Januar 2017 an jenem Tag, an dem Donald Trump als der wohl sexistischste US-Präsident aller Zeiten vereidigt wurde, in 673 Städten der weltweite „Women’s March“ stattfand, ging in Russland niemand auf die Straßen. Russia Beyond hat die einzige Frau, die den „Women’s March“ öffentlich unterstützte, ausfindig gemacht: Sie heißt Loretta Marrie, kommt aus Singapur und war allein mit dem Plakat „Why I March“ an jenem Tag in Moskau unterwegs.
Die Stellung der Frau war in Russland früher besser als in den USA
In Wirklichkeit finden laut der Umfrage des „Lewada-Zentrums“ im letzten Jahr 51 Prozent der russischen Männer und 75 Prozent der russischen Frauen, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sein sollten, und die auch die Geschichte der russischen Frauenbewegung reicht 100 Jahre zurück. Dennoch belegt Russland laut dem Jahresbericht des Weltwirtschaftsforums bei der Gleichstellung der Geschlechter den 71. Platz von 144 möglichen, und auch der Feminismus hat weitaus weniger Zulauf als beispielsweise in der Türkei, einem Land, das allgemein als konservativ und orthodox gilt.
„Zur Zeit der Revolution im Jahr 1917 spielten Frauenrechtsbewegungen und der Feminismus eine große Rolle“, erzählt Garina. Selbst als die Sowjets an die Macht kamen und den Feminismus als Bürgerrechtsbewegung verboten, war die Lage der sowjetischen Frau weitaus besser und gleichberechtigter als zum Beispiel in den USA und Deutschland: Sie hatte das Recht auf Arbeit und Karriere, das Recht auf Bildung, das Recht, ihren Nachnamen auch nach der Hochzeit zu behalten und zu werden, was immer sie wollte, ob nun Astronautin oder Direktorin.
Das hieß aber bei Weitem nicht, dass der sowjetische Alltag von Gleichberechtigung geprägt war: Nach der Arbeit kehrte die sowjetische Frau nach Hause zurück und musste meist noch den Haushalt führen und sich den Kindern widmen.
„Ein Beweis, dass das Gehirn ohne das Y-Chromosom nicht schlechter arbeitet“
„Auch im heutigen Russland gibt es viele Probleme in diesem Bereich, von häuslicher Gewalt über sexuelle Belästigung bis hin zu riesigen Unterschieden bei den Gehältern“, erzählt uns Natalia Smirnowa, die Generaldirektorin des Beratungsunternehmens „Personalnyj sowetnik“. Sie arbeitet bereits mehr als 15 Jahre im Finanzsektor und berichtet, dass sie als Frau bis heute die ersten 15 Minuten lang beweisen muss, dass „ungeachtet eines fehlenden Y-Chromosoms mein Gehirn genauso gut arbeiten kann. Mit den Kollegen verhält es sich ähnlich. Ich sehe auf Konferenzen zu Beginn so eine leichte Abschätzigkeit in ihren Gesichtern und muss mir dumme Bemerkungen wie „Mädchen, was verstehst du schon davon“ anhören. Erst wenn sie begriffen haben, was für einen ernstzunehmenden Kundenstamm ich habe, wird mein Geschlecht nicht mehr so wichtig.“
„Zusammenfassend lässt sich im Großen und Ganzen also sagen, dass der Feminismus, ungeachtet seiner langen Geschichte, eine recht junge Bewegung in Russland ist“, sagt Garina. „Und es gibt immer noch genug, worum Frauen kämpfen müssen und sollten. Im Moment findet der Großteil des Austausches zwar über die sozialen Medien statt, doch auf solche wahnsinnigen Gesetzesvorschläge wie das Abtreibungsverbot, oder die Idee, dass Frauen keine Zigaretten mehr verkaufen dürfen, wird es weitaus heftigere Proteste geben. Das wäre eine nachvollziehbare und logische Reaktion auf solch ein rechtes, konservatives Gedankengut.“