Warum haben Russen solche Angst vor Zugluft?

Natalya Nosova
Wohlmöglich sind russische Menschen nicht die einzigen, die Angst vor Zugluft, die von einem Fenster oder einer Klimaanlage ausgeht, haben. Man kann jedoch sagen, dass sie zu der Nation gehören, die sich vor Zugluft wahrscheinlich am meisten fürchtet.

In russischen Büros werden jeden Sommer Kriege aufgrund von Klimaanlagen geführt. Manche Leute kämpfen für das Recht, ein Fenster in einem überhitzten Raum öffnen zu dürfen, andere kämpfen für eine muffige, aber sichere und durchzugsfreie Umgebung. Es gibt diejenigen, die eine Klimaanlage bevorzugen und gegen die anderen kämpfen müssen, die behaupten, dass ein Zusammenspiel aus einem geöffneten Fenster und einer eingeschalteten Klimaanlage tödlich sein kann. Mit Mythen über Zugluft kann man in Russland sogar Kindern Angst machen.

Jede Familie hat ihre eigenen Theorien, und wenn Sie denken, dass jede absurde Behauptung ihre Grenzen hat, liegen Sie falsch. „In meiner Kindheit schaukelten meine zehn Jahre jüngere Schwester und ich mit Schals auf unseren Köpfen auf einer Schaukel. Die Anmerkung unserer Großmutter wäre ja an sich okay gewesen, aber die Schaukel befand sich in unserem Haus! Sie hatte große Angst, dass unsere Ohren beim Schaukeln kalt werden würden“, sagt (rus) Anna.

Die wichtigste Frage, die sich bei all dem jedoch stellt, ist, wie die Menschheit in der Lage war zu überleben, wenn Zugluft doch so gefährlich ist? Die Russen sagen, dass das Überleben dank der richtigen „Verteidigung“ möglich war.

Das russische Paradoxon

Schon vor hundert Jahren kämpften die Menschen gegen diesen Aberglauben. „Viele haben Angst vor Zugluft und stellen die Frischluftzufuhr im Raum ab... Andere haben Angst, das Fenster zu öffnen. Man muss jedoch sagen, dass schlechte Luft viel gefährlicher für die Gesundheit ist, als Zugluft“, schrieb die Medizinzeitschrift „Life and Health“ im Jahr 1909. Seitdem hat sich trotzdem nichts geändert. Die Angst vor der Zugluft wird von Generation zu Generation weitergegeben, die Zeitungen sowie das Fernsehen warnen noch immer vor dieser „Gefahr“ und die Russen glauben es.

„Das erste, was ich mache, wenn ich mit meinen Kindern in ein Café gehe, ist an die Decke zu schauen und abzuschätzen, ob die Klimaanlage nicht zu stark eingestellt ist. Im Haus meiner Eltern ist die Lüftungsöffnung der Klimaanlage im Kinderschlafzimmer beispielsweise abgeklebt“, sagt ein Bewohner aus Moskau. „Meine Schwiegermutter macht das Gleiche. Sie spürt buchstäblich jeden Luftzug. Sogar den, der von einem Stuhl oder einem Hocker verursacht wird, wenn man ihn bewegt. Sie sagt, wenn ich alt werde, wird es mir genauso gehen“, bestätigt eine weitere Person.

Das scheint ein kulturelles Paradoxon zu sein. Manche Russen wohnen in Sibirien, tauchen am Ojmjakon, dem kältesten Ort der Erde, in einem Loch eines zugefrorenen Sees in eisige Wasser ein oder essen Eis im Winter, fürchten sich aber vor einem kühlen Durchzug, weil sie glauben, dass es gesundheitsgefährdend ist.

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Der Zugluft wird zudem nachgesagt, die Ohren, Zähne oder Gesichtsnerven erkranken zu lassen und selbst die stärkste und gesündeste Person mit Fieber übermannen zu können. Das Schlimme ist, dass die Zugluft heimtückisch agiert. Man rollt das Autofenster ein bisschen runter, um etwas frische Luft zu bekommen und am Abend tränen die Augen und die Zähne schmerzen. „Die Zugluft war daran schuld!“, meint ein Russe sogleich und verzichtet darauf, je wieder ein Fenster zu öffnen. Wenn Sie sich also an einem heißen Sommertag in Russland in einem stickigen Bus wiederfinden, machen Sie sich darauf gefasst, dass all die verschwitzten Leute, die sich mit Zeitungen und Magazinen Luft zufächeln, es nicht zulassen werden, dass Sie ein Fenster kippen.

Missverständnis

„Ich denke, dass die Russen solche Angst vor Zugluft haben (ich will niemanden beleidigen), weil sie keine frische Luft mögen, woher auch immer sie kommt“, schrieb (rus) der britische Kardiologe Shamindra Perera im Jahr 2015. Nein, Shamindra, Russen haben schlicht und ergreifend Angst vor der Kälte, so seltsam das auch klingen mag. Diese Angst beginnt bereits im Kindesalter, wenn die Kinder Fleecestrumpfhosen, Leggings, einen Pullover, einen Pelzmantel und einen Hut tragen müssen, auch wenn draußen keine Minusgrade herrschen.

Doch die „Zugluftparanoia“ beschränkt sich nicht auf die Kindheit.

Der durchschnittliche Russe meint, dass es bei äußerst niedriger Außentemperatur im Inneren sehr warm sein muss. In Russland sind die Heizkosten nicht sehr hoch, und niemand spart Geld, wenn die Heizung ausgeschaltet bleibt. Viele Häuser sind darüber hinaus noch mit alten Heizkörpern ausgestattet, die in unregelmäßigen Abständen heizen und von Oktober bis April so warm werden, dass es möglich ist, daheim nackt herumzulaufen. Daher sind die Russen die Kälte nicht so sehr gewöhnt, wie man es vermuten könnte. Sie schätzen Wärme und lassen die Temperaturschwankungen gerne außen vor, obwohl es ab und zu wirklich notwendig wäre, daran zu denken.

„Erkälten sich Menschen, schreiben sie es der Zugluft zu, weil ein Kollege im Büro das Fenster offen hatte! Dabei halten sie selbst die Fenster geschlossen und gehen schließlich verschwitzt und erschöpft aus dem Büro in die Kälte hinaus, werden krank und geben der frischen Luft die Schuld“, schreiben manche Russen.

Vielleicht lassen sich solche kulturellen Gewohnheiten einfach nicht ändern. Schließlich haben viele Kulturen ihre seltsamen Überzeugungen. Manche afrikanischen Stämme glauben beispielsweise, dass sie mithilfe von Magie den Penis einer anderen Person stehlen können, merkt (rus) Journalistin Jascha Lewin an. „In Afrika schützen Männer ihre Penisse mithilfe von magischen Talismanen. In Russland schließt man indessen die Fenster, um nicht krank zu werden, und sitzt in stickigen Räumen.“

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