Live-Rollenspiel: Wenn gewöhnliche Menschen zu Elfen und Zwergen werden

Daria Strogalschikova
Seien Sie nicht überrascht, wenn Sie in Russland einen Mann mit einem Schwert oder eine Frau mit Elfenohren auf der Straße sehen. Sie kommen nicht aus einem Paralleluniversum – sie sind Mitglieder einer überraschend beliebten Subkultur in Russland.

Es war nicht immer so wie heute. Lange Zeit wurde Rollenspiel in Russland überhaupt nicht anerkannt. Diese Subkultur tauchte erstmals in den 1990er Jahren auf, als in Russland eine Zeit der Gesetzlosigkeit und Anarchie herrschte und alle nur versuchten, zu überleben. Natürlich entschieden einige Leute, dass sie nicht in dieser Art von Welt leben wollten, und so schufen sie stattdessen ihre eigene. Tausende Jugendliche, die mit Holzschwertern bewaffnet waren, gingen in den Wald, um ihrem wirklichen Leben zu entkommen. Sie suchten Zuflucht in einer Fantasiewelt von Elfen und Rittern – eine Welt, in der man genau weiß, wer Freund und wer Feind ist, und in der es sich lohnt, für die gute Seite zu kämpfen.

Es war die Wirklichkeitsflucht der Jugend, die in Russland die Basis für Live-Action-Rollenspiele, umgangssprachlich vorwiegend LARP genannt, bot. Die Gesellschaft sah die Angehörigen der LARP-Kultur meist als Freaks oder ewige Kinder, die sich weigerten, erwachsen zu werden. Was soll man schließlich über jemanden denken, der in einem Vorhang gekleidet im Wald herumrennt und die Sprache „Elbisch“ statt einer richtigen Fremdsprache lernt?

Aber die Zeit ändert sich und auch das Rollenspiel und seine Anerkennung in Russland hat sich verändert. LARP hat sich von einem Versuch, der Gesellschaft zu entkommen, zu einer großen sozialen Bewegung entwickelt. Es beinhaltet nicht mehr nur einen Ausflug in den nächsten Wald mit einem Kochtopf als Helm und einer zusammengezimmerten Rüstung aus Sperrholz, sondern um eine neue Art von Kunst, die Spiel, kreatives Bauen und Theater vereint. Und die Spieler sind heutzutage überhaupt keine Kinder mehr – vielleicht nur noch in ihren Herzen. Die meisten von ihnen sind erwachsene Menschen mit ganz normalen Jobs, für die Live-Rollenspiel ein ernsthaftes – und ziemlich teures – Hobby ist.

Und genau darum geht es in unserer Geschichte: Rollenspieler und Besucher der LARP-Festivals. Es geht um Leute, die unter der Woche einem guten Beruf nachgehen und am Wochenende als Cowboy den Wilden Westen erobern – und dass dieser Gegensatz nichts Ungewöhnliches ist. Für einige ist das Rollenspiel eine Chance, mit Schwertern zu kämpfen, während andere einen Seelenverwandten suchen oder LARP als eine Form der Therapie nutzen. Manchmal ist es nur eine simple Möglichkeit, sich von der täglichen Routine zu erholen. Manche Leute glauben sogar, dass es zum Lebensretter werden kann – nicht nur für sie persönlich, sondern auch für ihr Umfeld.

Ekaterina/Una, 20, Studentin

„Alles begann nach meinem Umzug nach Sankt Petersburg. Übrigens war ich selbst in meiner kleinen Heimatstadt immer etwas ‚anders‘, aber ich hatte dort glücklicherweise freien Handlungsraum. Sankt Petersburg ist ein wirklich kreativer Ort, und selbst wenn man als eine Waldfee die Metro betritt, reagieren die Menschen gelassen. Natürlich habe ich auch Tage, an denen ich eine Jeans und ein T-Shirt meiner Lieblingsband trage, aber in den meisten Fällen will ich Magie verkörpern. Ich möchte die Menschen um mich herum dazu bringen, sich wie in einem Märchen zu fühlen – als hätte ich meinen Besen irgendwo in der Nähe geparkt und mein Rucksack wäre voller Kräuter und Tränke.“

Angelina/Zeratul, 21, Physiklehrerin

„Zuerst fing ich damit an, Feuershows zu erlernen, und dann sagten mir meine Freunde, dass ich mit ihnen das ‚Beltain‘ besuchen sollte – ein großes Frühlingsfest für Folklore und Rollenspiel in Sankt Petersburg. Da ich mich seit meiner frühen Kindheit für Mythologie und Fantasiewelten interessiert habe, dachte ich mir ‚warum nicht?‘“.

Arina/Elhe, 27, Museumsmitarbeiterin

„Als ich vier Jahre alt war, las mir meine Mutter aus ‚Der Hobbit‘ vor und als ich fünf Jahre alt war schließlich auch aus ‚Der Herr der Ringe‘. Das war der Moment, als ich anfing, mich für die Welt von Tolkien zu begeistern. Als ich dann auch noch herausfand, dass es die sogenannten ‚Tolkienisten‘ gibt, habe ich versucht, sie in meiner Heimatstadt Rjasan aufzuspüren. Dies dauerte von meinem achten bis zum 14. Lebensjahr an, und dann erzählte mir ein Freund von einem Klub, in dem es möglich war, Rollenspieler zu treffen. Kurz nachdem ich 15 Jahre alt geworden war, kam ich also dorthin, traf Rollenspieler und ging zu meiner ersten Veranstaltung. So fing alles an.“

Henry/Henry, 27, Bauarbeiter

„Heutzutage gibt eine große Anzahl von Autoren, die Fantasy-, Science-Fiction- und historische oder pseudohistorische Romane schreiben. Jeder von ihnen hat seine eigenen Anhänger mit einem heiligen Traum: In die eine oder andere dargestellte Welt zu gelangen und an den Ereignissen teilzunehmen, die auf den Buchseiten stattfinden. Rollenspiele ermöglichen genau das: In wunderbare Märchenwelten versinken, in die Traumwelten der Autoren, die jedem Leser die Möglichkeit geben, sich als Teil dieses Universums zu fühlen. Diejenigen, die während des Großteil des Jahres nichts anderes erleben, als die eigenen vier Wände zu sehen und zu arbeiten, bietet Rollenspiel die Möglichkeit, der Realität und Routine des modernen Lebens zu entkommen. Sie erleben endlich die Freiheit, zu sein, wer sie wirklich sind.“

Anna/Heithell, 31, Sozialarbeiterin

„Ich bin seit meinem 13. Lebensjahr Mitglied der LARP-Gemeinschaft, also ist das für mich mehr als nur ein Hobby – es ist ein eigener Lebensstil. In unseren jungen Jahren, wenn wir besonders sensibel sind, versuchen wir Menschen zu finden, die ein Vorbild für uns werden können. Ich war auf der Suche nach ehrlichen, aufgeschlossenen, ungewöhnlichen Menschen, für die das Wort ‚Ehre‘ immer noch eine Bedeutung hatte. Ich habe viele von ihnen in den Reihen der LARP-Anhänger gefunden. Später wurde der Verein ‚Igry Buduschtschego‘, zu Deutsch ‚Spiele der Zukunft‘, gegründet. Wir denken, dass es unsere Mission ist, die Welt ein Stück besser zu machen. Unser Projekt ‚Noon‘, zu Deutsch ‚Mittagsstunde‘, das ich seit zwei Jahren in Sankt Petersburg koordiniere, versucht Waisenkindern zu helfen, mithilfe von LARP einen einfacheren Weg in die Gesellschaft zu finden.“

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