Die Sonne scheint auf das Kosmodrom in der kasachischen Steppe, so dass man die Augen fast geschlossen halten muss. Die Ingenieure und Mechaniker stehen still während ihr früherer Kollege, den sie nun als Pater Sergej kennen, neben der Rakete ein Gebet spricht. „Wir bitten den Herrn um seinen Segen für diesen Flug”, sagt er und verteilt großzügig Weihwasser.
Seit 1998 werden die Raketen der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos vor dem Start in Baikonur gesegnet, bisher 353 Mal. Sollte einmal etwas schiefgehen, sind spöttische Kommentare der Medien nach dem Motto: „Dann hätte man mehr Weihwasser benutzen sollen“ vorprogrammiert.
Immer wenn das Thema Religion in Russland diskutiert wird, erinnert man sich auch an befremdliche Rituale, wie das Segnen ganzer Militärstützpunkte.
Natürlich ist Russland gemäß der Verfassung ein Säkularstaat. Aber was bringt uns das für Vorteile?
Zuerst die Armee, dann Gott
Die Russen sind überwiegend christlich-orthodox. Nach offiziellen Angaben (rus) sind es 80 Prozent der Bevölkerung, die diesen Glauben haben. Der Rest sind Muslime, Juden und Buddhisten. Doch wenn Sie die Russen fragen, ob sie die Fastenzeit einhalten, antworten weniger als ein Prozent (rus) mit Ja. In die Messe gehen gerade einmal vier Prozent, das sind 5,8 Millionen Menschen in einem 146-Millionen-Einwohner-Land. Was noch seltsamer ist: Nur 75 Prozent derjenigen, die sich selbst christlich-orthodox nennen, glauben an Gott.
In der russischen Kirche sorgt das nicht für Beunruhigung. „Wir stehen gerade erst wieder am Anfang der spirituellen Rückbesinnung unseres Volkes”, sagt (rus) der Patriarch Kyrill. Der Einfluss der Kirche ist in den vergangenen 20 Jahren stetig gewachsen. Auf der Glaubwürdigkeitsskala (rus) rangiert die Kirche auf Platz zwei, zwischen Militär und Strafverfolgungsbehörden.
In den christlich dominierten Gebieten Russlands leben zahlreiche Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz Kreuze und Ikonen aufhängen. Doch beweist das ihre Frömmigkeit? Nein, wenn man Soziologen glauben darf.
„Heutzutage heißt das Bekenntnis, christlich-orthodox zu sein, noch nicht, dass man auch an Gott glaubt”, sagt Natalja Sorkaja vom Lewada-Zentrum. „Die Zahl dieser Orthodoxen deckt sich mit der Zahl der ethnischen Russen. So ist der Begriff orthodox für viele nichts weiter als ein Synonym für russisch.”
Mehr Aufmerksamkeit sollte dem Einfluss religiöser Institutionen auf soziale Normen und Verhaltensweisen gewidmet werden, meint Alexander Werchowski vom Sova Think Tank, der die Ausbreitung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie die gesellschaftlichen Auswirkungen von religiösem Dogmatismus untersucht. Da wird die Angelegenheit komplexer.
>>> Sind alle Russen christlich-orthodox? (VIDEO)
Wo leben die religiösen Russen?
Als man sich in Belosersk in der Republik Mordwinien im Jahr 2017 gegen ein Kopftuchverbot, das für Schüler und Lehrer erlassen wurde, auflehnte, war das im ganzen Land ein Skandal. Die Stadt, in der überwiegend ethnische Tataren wohnten, bekam den Titel „Tatarisches Kalifat” verliehen. Laut Rosfinmonitoring sind 18 Bewohner aktive Anhänger des IS, der in Russland verboten ist. Dies ist eine beachtliche Zahl für ein 3 000 Einwohner zählendes Dorf.
Jedermann zeigte mit dem Finger auf Belosersk, darunter der FSB und verschiedene Bildungseinrichtungen, ebenso wie der Bildungsminister höchstselbst, der damals sagte, dass das Tragen von Kopftüchern in Schulen völlig außer Frage stünde. Daraufhin gab es eine scharfe Reaktion aus einer anderen muslimisch geprägten Region des Landes: aus Tschetschenien.
Im Ergebnis der Debatte blieben einige Orte bei einem Kopftuchverbot, andernorts wurde das Verbot ignoriert. Der Oberste Gerichtshof hat das Kopftuchverbot in ausgewählten Regionen bestätigt (rus), doch das Verfassungsgericht, das für die Entscheidung auf nationaler Ebene zuständig ist, hat sich mit der Frage noch nicht befasst.
Doch nicht nur in diesen Regionen kann man religiösen Einfluss beobachten. Da wäre auch noch der Nordkaukasus. „Dagestan ist nach formellen Maßstäben eine tiefreligiöse Gegend, in der man keinen Alkohol besorgen kann”, sagt Werchowski. „Es gibt nicht etwa ein staatliches Verbot, es sind religiöse Aktivisten, die sogar mit Gewalt versuchen, den Alkoholverkauf zu verhindern.”
Von Gerichten zu Schulen
Seit 2013 gibt es in Russland ein Blasphemie-Gesetz. Dies war die Folge einer von Mitgliedern der Punkbewegung Pussy Riot in der Moskauer Erlöserkirche veranstalteten Protestaktion. Jedes Jahr werden seitdem ein oder zwei Fälle von Verstößen gegen dieses Gesetz geahndet, doch bislang gab es noch keine Gefängnisstrafe. So bekam der Athlet Sayeed Osmanow aus Dagestan 2016 für seine Aktion, bei der er auf eine Buddha Statue kletterte und sich erleichterte, nur zwei Jahre auf Bewährung. Er hatte ein Video seiner Tat im Internet hochgeladen.
Diejenigen, die sich ein mehr säkulares Russland wünschen, stellen häufig die Frage, wo das Gesetz ist, wenn die Empfindungen der Atheisten verletzt werden. Als nach endlosen Debatten in der Regierung und in den Medien das neue Unterrichtsfach „Grundlagen religiöser Kultur und Ethik” etabliert wurde, sahen viele darin einen direkten Versuch der Kirche, Propaganda zu verbreiten. Die Kirche hält dagegen und sagt, es gehe bei dem Fach darum, dass die Schüler sich mit Religion und der Vielzahl ihrer Traditionen auseinandersetzen.
„Wir mischen uns nicht ein!”, heißt es (rus) offiziell von der russisch-orthodoxen Kirche. „Die Kirche ist in Russland unabhängig vom Staat, der Staat mischt sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche ein und umgekehrt”, hat der Patriarch Kyrill schon mehrfach betont.
Wohin auch immer diese Versuche der Kirche, in den Schulen Einfluss zu gewinnen, führen mögen, Werchowski sieht darin keine Gefahr: „In der schulischen Realität gibt es verschiedene Lehrer, die unterschiedlich dieses Fach unterrichten. In einigen geht es um den orthodoxen Glauben, in anderen um die Weltreligionen. Die Kirche hat darauf keinen Einfluss. Das ist Angelegenheit des Staates.”
Zudem ist der Einfluss der Kirche in Zentralrussland eher begrenzt, wie Werchowski hinzufügt: „Es gibt zwar einige bemerkenswerte Bemühungen, doch dabei bleibt es auch.”
Wladimir Putin hat zu dem Thema eine klare Meinung: „Russland ist ein Säkularstaat. Es wurde als solcher gegründet und sollte auch einer bleiben”, erklärte (rus) er in der jährlichen TV-Sendung „Der direkte Draht”, in der er Stellung nimmt zu den Fragen und Sorgen der Bevölkerung.